Va, pensiero
share on facebookVerdis Gefangenenchor: italienisches Denkmal mit Wahrheitsfehlern
In der Corona-Tragödie avanciert „Va, pensiero” dieser Tage zur Hymne der Italiener – nicht zum ersten Mal in der Geschichte. Der Chor aus Verdis Oper Nabucco von 1842, in dem eigentlich die Hebräer in babylonischer Gefangenschaft ihr Heimweh beklagen, gilt seit rund 150 Jahren als klingendes Symbol der italienischen Staatswerdung, das bei jeder Gelegenheit mit erhebendem Pathos zelebriert wird:
Dass aber weder Verdi noch sein berühmtestes Chorstück im italienischen Einigungsprozess, dem „Risorgimento“, eine Rolle spielten, hat die Musikwissenschaft erst vor zwei Jahrzehnten entdeckt – in einem wahren Recherche-Krimi rund um gefälschte Quellen und patriotische Geschichtsverzerrung. Sogar Verdi selbst hat den Mythos vom „Befreiungschor“ im Alter mit einigen erfundenen Anekdoten befeuert, wie mittlerweile nachgewiesen wurde.
Das mindert natürlich die Qualität der Musik nicht im Geringsten. Und schon gar nicht nimmt es dem wunderbaren „Va, pensiero“ die Eignung zum Volkslied einer schwer gebeutelten Nation. Wie es trotz seiner ursprünglichen Unauffälligkeit dazu werden konnte, skizziert der folgende Text.
„papà de’ chori“ und die Revolution von 1848
Verdis politische Sujets, häufig Kriege oder Konflikte, die mit persönlichen Schicksalen und Liebesgeschichten verwoben werden, sind grundsätzlich nichts Ungewöhnliches in der historischen Oper seiner Zeit. Dennoch bilden sie einen der Nährböden für die Mythenbildung rund um Verdis Rolle in der italienischen Einigung. Frühester Brennpunkt dieser Mythenbildung ist der so genannte Gefangenenchor aus der Oper Nabucco, deren Uraufführung am 9. März 1842 an der Mailänder Scala dem 28-jährigen Verdi seinen ersten großen Erfolg bescherte. Bereits 1844 wurde Verdi von seinem Schüler Emanuele Muzio in einem Brief als „papa de’ cori“ bezeichnet. Verdi hatte 1843 in seiner nächsten Oper, I Lombardi alla prima Crociata, mit „O signore, dal tetto natio“ einen Chor geschrieben, der dem „Va, pensiero“ aus Nabucco in mehreren Aspekten frappant ähnelte, etwa in der hymnischen Homophonie und getragenen Stimmung, im Lamento um eine verlorene Heimat und im zehnsilbigen Versmaß, das hier erstmals als rhythmisch immer gleiches, harmonisch statisches Unisono auftaucht:
Auch Verdis Librettist Francesco Maria Piave schrieb bereits 1843 von einem eigenen Chor-Genre, das man mit Verdi assoziierte.
Hartnäckige Legenden
Um diese Chöre aus Verdis historischen Opern, besonders um ihre öffentliche Rezeption und Funktion rund um das Revolutionsjahr 1848, als Norditaliens Städte sich für einige Monate von der österreichisch-habsburgischen Fremdherrschaft befreiten, ranken sich seit rund eineinhalb Jahrhunderten jene hartnäckigen Legenden, die dem Komponisten eine zentrale Stellung im Risorgimento zuschreiben. Auch zeitgenössische Forscher, allen voran Philip Gossett, sehen in den historischen Sujets von Verdis vor der Revolution verfassten Opern wie etwa Nabucco, Attila oder Macbeth metaphorische Referenzen auf den patriotischen Diskurs. Doch hat der Musikwissenschaftler Roger Parker diesen Mythos Mitte der Neunziger Jahre am neuralgischen Beispiel des „Va, pensiero“ weitgehend dekonstruiert und darüber hinaus festgestellt, dass Verdis Opern im Jahr 1848 generell keine auffällige Rolle spielten.
Parker stieß während Recherchen zu seiner kritischen Nabucco-Ausgabe von 1996 auf eine Quellenfälschung in Francesco Abbiatis Verdi-Biografie von 1959. Der Autor behauptete, gestützt auf falsch zitierte Zeitungsberichte, dass das Uraufführungspublikum am 9. März 1842 in der Mailänder Scala eine Zugabe von „Va, pensiero“ gefordert hätte.
Ursprünglich keine Pause zwischen Chor und Prophezeiung
Dass dies unwahrscheinlich ist, enthüllt neben den inexistenten Quellen auch der Blick in die Originalpartitur: Die heute übliche, ganztaktige Pause samt Fermate zwischen dem Chor und der Prophezeiung des Zaccaria, die eine alleinige Wiederholung des „Va, pensiero“ ermöglicht, fehlt hier noch, weil beide Teile unter dem Titel coro e profezia ursprünglich als szenisch-musikalische Einheit konzipiert waren:
Überhaupt ist es bemerkenswert, dass die Profezia des Zaccaria und das abschließende Tutti nicht ebenso berühmt wurden wie der lamentierende Hymnus „Va, pensiero“: In diesem Teil wird erst die martialische Vision von der Vernichtung Babylons beschworen. Hätte diese Musik tatsächlich eine Rolle im revolutionären Kanon der Zeit gespielt, wäre der Chor wohl kaum ohne die folgenden Teile verwendet worden.
Die Trennung des Chors von Prophezeiung und finalem Tutti deutet eher darauf hin, dass er sich dank seiner weiter oben beschriebenen sentimentalen und ästhetischen Ausnahmequalitäten als volkstümlicher Schlager aus seinem Kontext löste, ohne spezifische revolutionäre Funktion.
Erfundene Fußnoten
Mehr als 100 Jahre lang nahmen die Verdi-Biografen Bezug auf Fußnoten, die der Theaterkorrespondent Folchetto alias Jacopo Caponi 1881 für Arthur Pougins Vita aneddotica di Verdi verfasst hatte. Folchetto behauptete darin, Verdi sei mit Nabucco und I Lombardi alla prima Crociata politisch aktiv geworden, und diese beiden Werke hätten mit ihren Anspielungen, mit ihrer poetischen Bezugnahme auf Italiens Unglück, Geschichte und Hoffnungen einen öffentlichen Einfluss ausgeübt, der Ausländern verborgen bliebe.
Jüngste Recherchen zeichnen ein entgegengesetztes Bild: In Neapel etwa war Nabucco zu dieser Zeit wenig erfolgreich, weil man lieber Italienisches als Orientalisches hören wollte. In Bologna wurde I Lombardi kurzerhand durch Nationalchöre anderer Komponisten ersetzt.
Blendet man gefälschte Quellen aus, gibt es keinen Hinweis mehr darauf, dass Verdis Musik in den Monaten des Mailänder Aufstands 1848 eine nennenswerte Rolle spielte. An zwei patriotischen Revue-Abenden fehlte Verdis Musik vollständig. Die Scala blieb in den Monaten des Aufstandes überhaupt geschlossen. Ausgerechnet nach der Rückkehr der Österreicher brachte Mailands größtes Haus ab Anfang 1849 Ernani, I due Foscari, Macbeth, Attila und eben auch Nabucco. Es ist undenkbar, dass die zurückgekehrten Besatzer diese Opern auf den Spielplan gesetzt hätten, wenn deren Musik in der niedergeschlagenen Revolte eine Rolle gespielt hätte.
(Auszüge aus einer Seminararbeit unseres Bloggers Matthias Wagner aus dem Jahr 2014)