Das Wunder Haydn
share on facebookReview & Interview:
Fulminant haben wir das alte Jahr beschlossen. Fulminant hebt das neue an. Dirigent Stefan Gottfried und das große Orchester recreation haben Haydns spektakuläre Pariser Sinfonien Nr. 82 und 83 gespielt, begleitet von Roland Renners Filmteam, das diesmal noch ein paar Extra-Tricks draufgepackt hat. Freuet euch auf diesen Musik-Actionfilm aus dem Hause styriarte, zu sehen ab 31. Jänner bzw. 7. Februar auf unseren Kanälen.
Das Statement
Eine C-Dur-Fanfare zur Eröffnung des neuen Konzertjahres: Wenn das kein Statement ist, nach dem Motto: Wir spielen munter weiter, weil wir eh nicht anders können. Und weil es so viel grandiose Musik gibt, von Haydn zum Beispiel. Der hat anno 1786 mit seinen sechs Pariser Sinfonien einen Triumph gefeiert, und ganz am Anfang steht mit der Zweiundachtzigsten ein C-Dur-Kracher, festlich glänzend, üppig leuchtend, das Leben feiernd.
Weil wir die heilsame Frische dieser Musik mit besonders frischen Bildern feiern wollen, ist das große Orchester recreation für seine aktuelle Musikfilmproduktion ein paar Häuser weitergezogen – vom Stefaniensaal in die Aula der Alten Universität. Das passt auch historisch ideal: Schließlich wurde der prachtvolle Bibliothekssaal am Freiheitsplatz im selben Jahrzehnt geschaffen wie Haydns Musik.
Keine Party ohne Drama
Diese Gleichzeitigkeit sei überaus inspirierend, sagt unser Dirigent Stefan Gottfried, der sich mit der hellhörigen Akustik sofort angefreundet und mit dem Orchester einen Prachtsound entwickelt hat. Die muskulösen Fanfaren des Eröffnungssatzes, das feinst ausgesteuerte Antwortmotiv, die innig glühenden Holzbläser: Sie atmen, unerhört differenziert, jeweils in ihrem ganz eigenen Tempo – und doch aus einer Lunge, ganzheitlich quasi. Wir sind vom ersten Klang an hin- und hergerissen vom Wunder Haydn, diesem Popstar der Klassik, bei dem es kein U gibt ohne E, keine Party ohne Drama.
Alles neu
Wir staunen, als hörten wir das zum ersten Mal. So solle es ja auch sein, zitiert Maestro Gottfried seinen Mentor Nikolaus Harnoncourt: jede Aufführung eine Uraufführung. Darum hören wir auch jede einzelne Wiederholung, die Haydn notiert hat. Damals, als das Spitzenorchester einer Pariser Freimaurerloge diese berühmten Sinfonien aus der Taufe hob, habe es kein Radio gegeben und keine MP3, keine Musikaufzeichnungen. Die Leute seien „ganz gierig“ gewesen, die Musik so oft wie möglich wiederholt zu bekommen.
Die Freiheit der Interpretation
Wobei: Wenn Stefan Gottfried mit dem Orchester recreation musiziert, ist das Wort Wiederholung fast irreführend. Auch wenn die gleichen Noten dastehen, klingt beim zweiten Mal alles anders. Wir lernen eine Menge über die Freiheit der Interpretation, über Phrasierung, Dynamik, Tempi; und staunen. So und nicht anders muss Haydn seine Doppelpunkte gemeint haben.
Es tanzen die Menschen
Dann treten wir ein in den Ballsaal des zweiten Satzes, in dem Stefan Gottfried einen hinreißend pointierten Kontratanz inszeniert zwischen schwindsüchtigen Streicherseufzern und klangtrunkenem Tutti, rauschhaft vereint im Tumult der Variationen. Nach dem Volke tanzt der Hof im Menuett, unwirklich schwebend wie Astronauten in der Trainings-Zentrifuge.
Es steppt der Bär
Zuletzt tanzt „der Bär“. Der berühmte Beiname der Sinfonie, der erst später erfunden wurde, hätte Haydn nicht gestört, ist sich der Maestro sicher, ganz im Gegenteil. „Haydn selbst hat gesagt, dass er sich beim Komponieren immer zuerst Geschichten und Bilder ausdachte; er brauchte das als Inspiration.“ So plastisch hat man das selten erlebt wie heute, mit all den lustvoll explodierenden Dudelsack- oder Drehleier-Vorhalten, den brummenden Bässen. Der Bär ist los. Platz hat er ja genug im halbleeren Saal.
Es singt das Huhn
Wie anders wirkt die g-Moll-Fanfare am Beginn der 83. Sinfonie auf uns ein! Der düster schillernde Galopp reißt uns mit ins Schattenreich, wo wir – plötzlich wieder fröhlich – dem titelgebenden „Huhn“ begegnen, in Person der Wiener Oboe von Helene Kenyeri. Nur ist es eher kein gackerndes Hendl, sondern ein seeehr musikalisches, verliebenswert hineingeschmiegt ins Orchester, in dem noch der Bärentanz nachhallt.
Ein Hauch von Nichts
Später begegnen wir dem Nichts, und zwar erstmals im 27. Takt des Andante, wo Haydn „sempre più piano“ notiert hat, immer noch ein bisschen leiser. Das war für den Komponisten weniger anstrengend, als jene hundert „p“ hintereinander zu notieren, die Stefan Gottfried mit dem Orchester in den Saal haucht, leiser als die Stille selbst – und ff-Tremoli dreinstieben lässt, mit und ohne Mannheimer Raketen, dass uns die Ganslhaut aufsteigt. So erleben wir das Wunder Haydn, das immer auch ein Actionfilm ist, rasant geschnitten, prall gefüllt mit Gefühl und Farbe – mit einem Orchester in Bestform. 2021, here we come!