FUN & FANTASY
share on facebookReview & Interview zu „Bilder einer Ausstellung“:
„Immer, wenn ich Ravel machen darf, bin ich wie ein Kind im Spielzeugladen. It’s incredibly fun!“ Sagt Mei-Ann Chen. Einmal mehr ist sie aus Chicago über den Großen Teich gekommen, um in Graz großes Klangkino zu spielen. Die Erste Gastdirigentin des Orchesters recreation festigt bei der Aufzeichnung von Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ in der Ravel-Fassung ihren Ruf als Superspreader der Begeisterung.
Safety first
Viren werden dabei selbstverständlich keine verteilt: Unser schon bewährtes System aus kombinierten PCR- und Antigentests mit sämtlichen Beteiligten macht aus der Helmut List Halle eine Covid-19-Hochsicherheitszone, in der alles angerichtet ist für ein neues Filmspektakel – zu erleben am Sonntag, 21. Februar, ab 16 Uhr auf unseren Kanälen.
Zehn Bilder hat Modest Mussorgski anno 1874 in der Gedächtnisausstellung für seinen verstorbenen Freund Viktor Hartmann betrachtet und darüber seinen legendären Klavierzyklus komponiert. Sie sind während unserer Aufzeichnung im Saal dabei – allerdings nur die Rahmen, gebaut von Christian Bader und Matti Kruses Technikteam. Die Rechtecke aus Styropor-Zierleisten, mit Goldlack angesprüht, erfüllen ihren Auftrag in der Welt des schönen Scheins bravourös.
Platz fürs Kopfkino
Die leeren Rahmen sollen Räume öffnen für unsere Fantasie. Was das Auge nicht sieht, ergänzt das Hirn, stimuliert von der akustischen Bilderflut, die Maurice Ravels Orchesterfassung der „Bilder einer Ausstellung“ entfesselt. Das macht Spaß, sagt Maestra Chen:
„Das ist der Grund, warum ich Dirigentin geworden bin.“ Mehr Liebeserklärung geht nicht, und wir verstehen vollkommen, was die Maestra meint. Wir alle können sie spüren, die Gänsehaut, die ihr über den Rücken läuft, wenn sie den Arm ausstreckt und den Blick senkt, um im letzten Bild, dem „Großen Tor von Kiew“, das Promenadenthema kulminieren zu lassen, im gleißenden Regenbogen-Fortissimo des ganzen Orchesters, samt Kirchenglocke in Es.
Chefmagier Ravel
Verzeiht den Ausdruck: Geiler kann Musik nicht klingen. Ravel, der Chefmagier des spätromantischen Orchesterklangs, weiß genau, wie er uns von der ersten, einsamen Trompeten-Promenade an in seinen Bann zieht und nie mehr loslässt, ungefähr 35 Minuten lang.
Wer ist die Schöne?
Alle im Saal wären gern die Schöne, die der Troubadour vor dem alten Schloss anbetet, verkörpert durch Clemens Frühstücks Altsaxofon, das diese Romanze mit dem weichsten aller jemals gehörten Sounds in den Saal weht, gebettet in den zärtelnden Wiegeschritt von Tonia Solles Fagott.
Alle fühlen mit dem müde stampfenden Zugochsen, dessen einsames Lied Christian Godetz‘ Euphonium dunkel vor sich hin summt, der sich im Tutti wie ein Riese aus dem Lehm erhebt und wieder zusammensinkt.
Die hinreißenden Holzbläser-Küken; der anrührend zeternde Schmuÿle (Piccolo-Trompete: Stefan Hausleber): Sie sind ideal getroffen, sie füllen die Schwärze zwischen den goldenen Bilderrahmen als lebende Charaktere.
Unterwelt in 3D
Und dann dieser Welt-Augenblick, von Ravel den Blechbläsern aller künftigen Generationen auf den Leib geschrieben, in dem wir vom flirrenden Markttreiben hinabtauchen in die Katakomben. Da steht die Zeit still, und alles schwebt. So vielschichtig, so räumlich zwischen scharfem Forte und transzendentem Piano, als wäre die Helmut List Halle zirka einen Kilometer lang und tief.
Bassmonster
Wir lauschen dem Geistertremolo der Streicher; dem milden Gebet der Holzbläser. Ein himmlischer Moment, hat Mei-Ann Chen gesagt, die den Hexentanz der Baba Jaga umso brutaler dreinstieben lässt. „Can you give me a little monster here?“, hat sie die Bässe und Celli in der Probe gebeten. Die schwirrenden Streicherglissandi, das triumphale Zwielicht der Blechfanfaren: Das brodelt und schäumt, das blitzt und kracht, bevor die Apotheose des großen Tors von Kiew einsetzt. Nie wirkt das mechanisch, sondern immer staunend; jeder Sound, jeder Zaubertrick aus Ravels magischer Feder ein Ereignis, ein Individuum, das atmen darf.
Weil es Liebe ist
Sie gehe in die Aufzeichnung mit dem Ziel, die Magie der Live-Performance auch im Stream noch spürbar werden zu lassen, hat Mei-Ann Chen gesagt. Wie das gelingen kann, erleben wir in den Tagen dieser Produktion auf und hinter der Bühne. Die Maestra hat eine Jahresdosis Liebe mit über den Atlantik gebracht. Sie gewinnt die Herzen aller Beteiligten mit ansteckender Begeisterung, die über das rein Musikalische hinausgeht – und die Orchestermusiker*innen zu Partner*innen auf Augenhöhe erklärt. Das ist ziemlich modern. Eine Art gelebter Utopie des Dirigierens in einer demokratischen Gesellschaft.
Das Resultat dieser künstlerischen und menschlichen Haltung hören und sehen wir demnächst:
Ab Sonntag, 21. Februar, 16 Uhr.