Harnoncourt plays Schubert.
Out now!
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„Man hört vom ersten Ton an, dass da ein überragendes Genie ist, eigentlich unvergleichlich, außer eben vielleicht mit Mozart.“
Also sprach Nikolaus Harnoncourt im Sommer 1988, als er sich anschickte, mit dem damals blutjungen Chamber Orchestra of Europe (COE) alle acht Sinfonien von Franz Schubert aufzuführen – bei uns, bei der styriarte. Es war sein allererster Schubert-Zyklus. Jetzt, 32 Jahre später, hat das COE dieses denkwürdige Ereignis erstmals auf CD herausgebracht, in einer blauen Box, die bereits im styriarte-WebShop, nach dem Lockdown natürlich im styriarte-Kartenbüro für Sie aufliegt. Wir haben fasziniert hineingelauscht – und sind ins Archiv geklettert, um Harnoncourts damalige Gedanken nachvollziehen.
Affenhitze und Infrarot
Es muss für die Musiker*innen eine existenzielle Erfahrung gewesen sein anno 1988. Geprobt wurde im Dachbodensaal des Brandhofs, bei einer Affenhitze. Und vorne stand einer, der – wie immer – volles Risiko verlangte von jeder und jedem Einzelnen. Musizieren „am Abgrund“, was sonst?
Mit Infrarotlicht hatte Harnoncourt die Partituren zuvor durchleuchtet, Retuschen von Brahms und anderen entfernt, um zum Originalgenie Schubert durchzudringen, das seine Sinfonien selbst vermutlich nie gehört hat. Ganz ähnlich war der Superstar aus Graz davor ja schon mit Bach verfahren:
Dann mit Haydn. Und dann mit Mozart.
Richtig oder falsch? Wahrhaftig!
Nun sei ja Schubert ein ganzes Stück später gewesen als Bach, Haydn oder Mozart, merkte Mathis Huber (damals noch nicht Intendant der styriarte) seinerzeit im Interview mit Harnoncourt an. Ob bei Schubert deshalb weniger abzustauben, die landläufige Interpretation hier „richtiger“ sei? Und Harnoncourt sprach:
„Ich glaube, dass wir sehr schnell in Kategorien wie ‚richtig‘ und ‚falsch‘ geraten. Viel eher sollten wir sagen: Jede Generation, die sich mit Kunst der Vergangenheit beschäftigt, sieht andere Aspekte dieser Kunst. […] Ich räume den Schutt weg, den Generationen darübergekleistert haben, die mich heute nicht mehr interessieren, außer wissenschaftlich. Ich kleistere möglicherweise neuen Schutt darauf, der der Schutt unserer Zeit ist. Ich habe nicht den Ehrgeiz zu zeigen, was richtig ist, sondern ich zeige, was für unsere Zeit richtig ist, und ich bin ganz sicher, dass in 30 Jahren andere kommen werden, die wieder andere Aspekte sehen werden.“
Richtig und falsch, das waren also keine brauchbaren Kategorien für Harnoncourt. Eine allgemeine Wahrheit zu postulieren, war ihm kein Anliegen. Wahrhaftigkeit im künstlerischen Augenblick, das radikale Hinterfragen der Tradition, so lautete sein Mindeststandard und höchster Anspruch, mit dem er die Klassikwelt umkrempelte.
Danke ORF!
Welch ein Segen, dass der ORF diesen denkwürdigen styriarte-Moment mitgeschnitten und in seinen Archiven sorgsam aufbewahrt hat. Die vier CDs, die das COE bei ICA Classics produziert hat, beeindrucken durch den lebendigen, warm gerundeten und dennoch hoch aufgelösten Klang, mit dem sie Harnoncourts Arbeit in seinem geliebten Stefaniensaal wieder erlebbar machen.
Faszinierend ist, dass das COE die Schubert-Sinfonien im selben Jahr 1988 noch mit einem anderen Weltstar eingespielt hat, nämlich Claudio Abbado. Das versetzt uns in die Lage, einen direkten Vergleich zu ziehen – und Harnoncourts massiven Bruch mit der Musiziertradition glasklar vor Ohren geführt zu bekommen. Gleiche Musik, gleiches Orchester, gleiches Jahr.
Same but different
Schon in der ersten Sinfonie bleibt im Vergleich kaum ein Stein auf dem anderen. Viel impulsiver, explosiver ertönen die Tutti-Akkorde der Einleitung bei Harnoncourt; die Klanggebung, besonders bei den Streichern, ist knapp gerafft, sodass die Bläser, besonders das schnarrende Forte-Blech, nicht bloß als Farbenorgel durchschimmern, sondern eigene Konturen, eigenes Leben entwickeln. Auch die Tempi begreift Harnoncourt völlig anders. Im dritten Satz etwa sind wir weit weg vom breiten, höfischen Menuett-Charakter, den Abbado beschworen hat. Stattdessen vollführt das COE mit seinem Grazer Maestro einen stampfenden Volkstanz; unbändig, lebensfroh. Wie Johann Strauß habe auch Schubert „im Wiener Dialekt“ geschrieben, erklärte Harnoncourt damals – da sei auch „bei den heiteren Stücken immer eine dicke Träne drin […] vielleicht ist das der sehr starke slawische Einfluss in Wien, sicherlich ein östlicher.“
Zum Hineinhören: Schuberts Erste im Vergleich
Karajan und die Berliner Philharmoniker, 1978:
Abbado und COE, 1988:
Harnoncourt und COE, 1988 (auf Spotify und auch im styriarte-Onlineshop).
Heilsame Verwirrung
Keine Frage: Kenner*innen der Schubert-Sinfonien müssen anno 1988 im Stefaniensaal und vor den Rundfunkgeräten förmlich mit den Ohren gewackelt haben. Und den Orchestermusiker*innen ging es nicht anders. Die an sich ja vertraute Musik habe sich in der Arbeit mit Harnoncourt manchmal so verändert, dass die Musiker*innen „verwirrt wurden und an einer falschen Stelle spielten“, erinnert sich etwa die Geigerin Elizabeth Wexler im lesenswerten Beiheft zur brandneuen CD-Edition. „Harnoncourt war immer sehr zufrieden, wenn dies geschah, als habe er uns in einen unverbildeten Zustand zurückgeführt und als wären wir Musiker, die Beethoven, Haydn oder Schubert zum ersten Mal kennenlernten.“ Harnoncourt habe mit den Streichern akribisch am österreichischen Volksmusikklang gearbeitet; die Proben in der „Bruthitze“ jenes Sommers seien erfüllt gewesen von Geschichten und Gelächter.
Der Unvollendeten Geschichte
Eher wenig Gelächter, aber eine sehr berührende Geschichte gab es damals zur berühmten „Unvollendeten“. Schubert habe darin seine eigene allegorische Erzählung „Mein Traum“ (wie die Sinfonie aus dem Jahr 1822) musikalisch verarbeitet, so schrieb Harnoncourt höchstpersönlich im Programmheft der styriarte 1988 – und weiter:
„In dieser Erzählung schreibt der 26-jährige Komponist sich ein Jugenderlebnis von der Seele, das ihn anscheinend nachhaltig und tief beeindruckte: Als er etwa 15 Jahre alt war, verbot ihm sein Vater immer wieder zu komponieren; als das nichts half, wies er ihn aus dem Haus. Der junge Schubert hatte keine Gelegenheit mehr, seine geliebte Mutter lebend zu sehen; sie erkrankte und starb während seines Ausgestoßenseins. Erst an ihrem Grab versöhnte er sich wieder mit seinem Vater.“
Harnoncourt und Schering – wieder einmal
Diese tragische Lebensepisode und Schuberts Text „Mein Traum“ seien das eigentliche literarische Programm hinter der „Unvollendeten“, so Harnoncourt. Wobei er, wie später bei Beethoven, auch den „Inhalt“ von Schuberts Achter beim Musikwissenschafter Arnold Schering gefunden hat. Dessen Aufsatz „Franz Schuberts Symphonie in h-Moll und ihr Geheimnis“ aus dem Jahr 1938 kann man >>hier im Original studieren. Zwei Grafiken zum ersten und zweiten Satz, in denen Schering den einzelnen Motiven und Formteilen präzise erzählerische Inhalte zuordnet, ließ Harnoncourt 1:1 ins Programmheft drucken:
Wie wir heute, lange nach 1988 und noch länger nach 1938, zu solchen inhaltlichen Befrachtungen stehen wollen, muss natürlich jede und jeder für sich beurteilen. Für Harnoncourt war es klar. Es sei bei den Komponisten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein „Zunftgeheimnis“ gewesen, ihre Symphonien über literarischen Vorlagen zu entwickeln, meinte er damals.
Klartraum in HD
Jedenfalls markiert seine Version der Achten, so wie der ganze Schubert-Zyklus des heißen Sommers 1988, eine faszinierende Zäsur in der Interpretationsgeschichte. Das unheimliche Dräuen, die unentrinnbare Größe der Gesten im düstersten Dunkel Schubertscher Tragik, sie kommen bei Harnoncourt ohne das geheimnisvolle Flimmern, ohne die klangliche Entrückung früherer und späterer Aufnahmen aus. Der Traum, den wir hier hörend erleben sollen, ist ein hellwacher, ein Klartraum, in dem die (über-)menschlichen Gestalten und Kräfte plastisch und definiert vor uns stehen.
Die Tutti-Stöße im ersten Satz sind keine grollenden Donnerschläge, sondern schießen dank der erneut brutal grellen Blechbläser wie Blitze in die Stille, das rhythmische Pizzicato der Celli und Bratschen, welches die Klarinetten und Oboen durch das Hauptthema trägt, ist klar konturiert; die tremolierenden Sechzehntel der Geigen verschwimmen nicht, sondern tanzen luftig und transparent um die Figuren, und das zweite Thema, wie könnte es anders sein, hat man gelöster, tänzerischer, wenn man so will: wienerischer nicht gehört.
Harnoncourt entrückt uns nicht von dieser Musik, er lässt uns nicht aus Ferne auf ein Unerhörtes horchen, sondern holt uns mitten hinein, zeigt uns das Drama in High Definition. Unfassbar bleibt dieser Schubert ja trotzdem, weil einfach zu groß für uns, und – so will es das Wesen der Musik – vergänglich. >>Spotify
Hier noch Schuberts Erzählung im Originalwortlaut:
Den 3ten July 1822
Mein Traum
Ich war ein Bruder vieler Brüder und Schwestern.
Unser Vater und unsere Mutter waren gut. Ich war allen mit
tiefer Liebe zugethan. – Einstmahl führte uns der Vater zu
einem Lustgelage. Da wurden die Brüder sehr fröhlich. Ich
aber war traurig. Da trat mein Vater zu mir, und befahl
mir, die köstlichen Speisen zu genießen. Ich aber konnte
nicht, worüber mein Vater erzürnend mich aus seinem Angesicht
verbannte. Ich wandte meine Schritte und mit einem
Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten,
wanderte ich in ferne Gegend. Jahre lang
fühlte ich den größten Schmerz und die größte Liebe mich
zertheilen. Da kam mir Kunde von meiner Mutter Tode.
Ich eilte sie zu sehen, und mein Vater von Trauer erweicht,
hinderte meinen Eintritt nicht. Da sah ich ihre Leiche.
Thränen entflossen meinen Augen. Wie die gute alte Vergangenheit,
in der wir uns nach der Verstorbenen Meinung
auch bewegen sollten, wie sie sich einst, sah ich sie liegen.
Und wir folgten ihrer Leiche in Trauer und die Bahre
versank. – Von dieser Zeit an blieb ich wieder zu Hause.
Da führte mich mein Vater wiedereinstmahls in seinen
Lieblingsgarten. Er fragte mich ob er mir gefiele. Doch mir
war der Garten ganz widrig und ich getraute mir nichts
zu sagen. Da fragte er mich zum zweitenmahl erglühend:
ob mir der Garten gefiele? – Ich verneinte es zitternd. Da
schlug mich mein Vater und ich entfloh. Und zum zweitenmal
wandte ich meine Schritte, und mit einem Herzen voll
unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte
ich abermals in ferne Gegend. Lieder sang ich nun
lange, lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir
zum Schmerz; Und wollte ich wieder Schmerz nur singen,
ward er mir zur Liebe.
So zertheilte mich die Liebe und der Schmerz.
Und einst bekam ich Kunde von einer frommen Jungfrau,
die erst gestorben war. Und ein Kreis sich um ihr Grabmahl
zog, in dem viele Jünglinge und Greise auf ewig wie
in Seligkeiten wandelten. Sie sprachen leise, die Jungfrau
nicht zu wecken.
Himmlische Gedanken schienen immerwährend aus der
Jungfrau Grabmahl auf die Jünglinge wie leichte Funken
zu sprühen, welche sanftes Geräusch erregten. Da sehnte ich,
mich sehr auch da zu wandeln. Doch nur ein Wunder, sagten
die Leute, führe in diesen Kreis. Ich aber trat langsamen
Schrittes, innen Andacht und fester Glaube, mit gesenktem
Blicke auf das Grabmahl zu, und ehe ich es
wähnte, war ich indem Kreis, der einen wunderlieblichen
Ton von sich gab; und ich fühlte die ewige Seligkeit wie
in einen Augenblick zusammengedrängt. Auch meinen
Vater sah ich versöhnt und liebend. Er schloß mich in seine
Arme und weinte. Noch mehr aber ich.
Franz Schubert.