Hautnah ist das neue Live
share on facebookMan soll ja keine Sensationen ankündigen, heißt es, aber diesmal erlauben wir uns das. Weil wir es nämlich schon gehört haben, das Konzert, das wir am Samstag, 14. 11. 2020 ab 17.30 Uhr durch unsere Kanäle schicken. „Telemannia“ heißt die Show des überragenden Duos Georg Gratzer und Klemens Bittmann; es ist ein genialer, rasanter, ohrenerweckender Parforceritt durch die Musik-Epochen und -Stile. Statt unseres Live-Publikums waren sechs Kameras dabei; statt Eintrittskarten mussten alle Beteiligten Covid-Speichelproben abgeben. Und die Musik hätte uns fast das Dach weggehoben.
Was sein muss
Angenehm ist das nicht, wenn sich das Wattestäbchen seinen Weg in den Rachen bahnt. Es kratzt, es würgt. Gott sei Dank ist es schnell vorbei. Die allermeisten haben danach Tränen in den Augen. Dabei gehen unsere Kolleginnen Diana Bers, Victoria Pototschnig und Lisa Kaufmann denkbar behutsam mit uns um. Dr. Michael Stelzl vom Hygienicum-Institut hat sie bestens eingeschult und überwacht das Testprozedere genau. In ihrer blitzweißen Montur sehen sie aus wie echte Laborprofis, verrichten mit ruhiger Hand Präzisionsarbeit.
„Es ist ein Antigentest, ein Schnelltest“, erklärt Lisa, die unser rasant aufgezogenes Musikfilmprojekt im Palais Attems leitet. „Nach spätestens 18 Minuten haben wir ein Ergebnis. Wenn es negativ ist, weiß man, dass man zum Zeitpunkt des Tests nicht infektiös ist.“ Insgesamt zwölf Menschen sind an der Produktion beteiligt. Bald heißt es: „Alle negativ. Kann losgehen.“ Also dann.
Spaß beim Schneiden
Die Filmcrew hat das Studio – zusammen mit unserem Technikteam rund um Matti Kruse – schon verwandelt. Dort, wo sonst Nikolaus Harnoncourts Wandporträt ernst in den Saal blickt, steht jetzt eine weiße Stoffwand als Hintergrund für den Dreh. Sechs Kameras haben Roland Renner von Reziprok und seine drei Kollegen positioniert.
Warum so viele? „Erstens habe ich gern ein bisschen Spaß beim Schneiden, ein bisschen Abwechslung,“ sagt Roland hinter seinem Mund-Nasenschutz mit einem unüberhörbaren Grinser. „Und außerdem sind wir so in der Lage, das ganze Konzert in einem Take aufzunehmen. Wie ein echtes Live-Konzert eben.“
Kunstereignis: Musikfilm
Das entspricht genau jener Idee, die unser Intendant Mathis Huber ziemlich schnell nach Bekanntwerden des neuen Lockdowns formuliert hat. „Wir wollen die Gelegenheit nutzen, um neue Formate zu entwickeln, neue Interessentinnen und Interessenten anzusprechen.“ Das Ergebnis soll kein trauriger Ersatz für das Live-Erlebnis sein (das wir ja nicht abgesagt, sondern auf 24. und 25. April verschoben haben). Sondern ein vollwertiges künstlerisches Ereignis, nach allen Regeln der Kunst geformt und gestaltet. Erlebbar im Medium der Gegenwart, dem Internet.
Und so neu ist das ja gar nicht: eine Musikproduktion im Studio. In unserem Fall eben mit Fernsehkameras, die uns ganz nah heranführen, hineinzoomen in den Akt des Musizierens, in die unmittelbare Begegnung zweier Ausnahmekünstler.
Deren Namen lauten Klemens Bittmann und Georg Gratzer. Der eine spielt Geige und Mandola, der andere fast alles, was auf die Bezeichnung Holzblasinstrument hört. Es sind klingende Namen der mitteljungen Szene, geboren aus Klassik und Jazz, aber derartigen Zuschreibungen und Begrenzungen längst himmelhoch entwachsen.
Tele-Manie
Dafür steht schon der Titel ihres aktuellen Sensationsprojekts, „Telemannia“. Darin steckt der Name eines Barockkomponisten – und auch die Haltung, mit der ihm das Duo seine Reverenz erweist: Manie! Manisch im mitreißendsten Sinne packen Gratzer/Bittmann die Musikgeschichte beim Telemann’schen Schopf, fliegen mit ihm quer durch die Jahrhunderte ins Heute; quer über den Erdball von Indien nach England, von Chile nach Graz.
Von Telemann selbst sind in diesem Abenteuertrip nur drei Stücke vertreten, der Rest stammt aus den genialen Hirnen viel späterer Kollegen, hauptsächlich Zeitgenossen. Sie heißen Gratzer, Puschnigg, Mauerhofer, allesamt Helden der heimischen Szenen. Sie heißen McLaughlin, Piazzolla, Morricone und Radiohead – durchwegs Götter des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Tele-Mannieren
„Telemannieren“, das ist ein Zeitwort im Universum Gratzer/Bittmann. Es steht für die unfassbar elaborierte und zugleich spontan wirkende Art des Duospiels, welche die beiden in 20 Jahren des gemeinsamen Musizierens entwickelt haben. Immer mit höchstem Risiko, immer an der Grenze. Das sei vielleicht durchaus im Geiste Harnoncourts, meint Klemens Bittmann. Und wie, meinen wir.
Notentreue oder ein rekonstruierter Originalklang sind dafür in diesem Fall verzichtbar. Weil das Duo die Substanz der jeweiligen „Werke“ zum Ureigensten erklärt und völlig frei durchlebt, durchleidet, durchtanzt, durchdringt. Intuitiv und frisch wie bei einer Jamsession wirkt das mitunter, obwohl es doch weitgehend „ausgecheckt“ sein dürfte. Aber vor allem ist es spektakulär gut und unerhört musikalisch, ganz egal in welchem Aggregatzustand. Ganz egal ob kontrapunktische Achterbahnfahrt oder verträumte Klangmeditation, ob zärtlichste Lyrismen oder synchrone Treibjagden.
Die Musen im Publikum
Die Musen haben einen pauschalen Segen über die rund 60-minütige Session ausgebreitet, sie hatten gar keine andere Wahl, das ist deutlich zu spüren. Herr Bittmann und Herr Gratzer geben alles, riskieren alles. Sie rocken unser Studio, wie es vermutlich noch nicht gerockt worden ist. Sie umarmen das Gestern und das Heute, sie umarmen unser reiches Europa und die ganze Welt auf diesen 20 Quadratmetern Parkett. Mehr geht einfach nicht.
Und das Beste: Wir haben diesen Glanzmoment eingefangen, in voller Länge. Tune in!
Abrufbar ab Samstag, 14. November, 17.30 Uhr.