Ostermontag im PSALM: Protestsongs 1910 – 2021
(How To Save This) Wonderful World?
share on facebook30. März 2021
Welch wunderbare Welt! Zum PSALM-Finale am Ostermontag feiern wir die Zivilcourage der großartigen Greta Thunberg, die diese Erde und ihrer Bewohner retten muss. Dazu spannen wir einen großen Bogen durch die Popgeschichte: von den unsterblichen Songs der westlichen Friedensbewegungen bis ins Hier und Jetzt; von Woody Guthrie zu Billie Eilish. Mit Spannung warten wir darauf, wie unsere Superband rund um Anna Heimrath, Thomas „Effi“ Petritsch und Raphael Meinhart diese grandiose Musik ganz neu begreifen wird. Am 5. April ausschließlich live im Stream! Die Song-Originale – und die brisanten Geschichten, die sie uns erzählen – gibt’s hier:
Lied von der Erde, anno 1967
Am Ostersonntag hören wir Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Am Ostermontag schließen wir genau da an – wenn auch im Kleinformat: Ganze zweieinhalb Minuten benötigte Louis Armstrongs Reibeisenstimme anno 1967 für seine Liebeserklärung an unseren bunten Planeten. Die Botschaft: Das Paradies, das ihr sucht, es ist genau hier, auf Erden. Bestaunt es, behütet es. Und liebt einander. Das klang auch vor 54 Jahren schon reichlich blauäugig, inmitten des Wettrüstens, des Vietnamkriegs und der tiefen gesellschaftlichen Spaltung – mit Bürgerrechtler*innen und Hippies auf der einen, Rassist*innen und Konservativen auf der anderen Seite. Doch gerade daraus nährt sich die zeitlose Anziehungskraft dieses Songs im triolentrunkenen, verklärt orchestrierten Viervierteltakt.
Wem gehört das Paradies?
Selbstverständlich ließen Armstrongs Liedautoren George David Weiss und Bob Thiele die heikle Frage aus, wem dieses Paradies nun eigentlich gehöre. Die fröhlich-beschwingte Antwort darauf hatte 30 Jahre zuvor der Folk-Barde Woody Guthrie gegeben, mit seinem Klassiker „This Land Is Your Land“: Dieses Land gehört uns allen – ganz egal, was das Grundbuch sagt. Dass Guthrie sich damit in die Notizbücher der Kommunistenjäger der McCarthy-Ära sang, versteht sich von selbst. In seiner ersten Studioaufnahme fehlte deshalb sogar die Strophe mit der Aufforderung, Schilder mit der Aufschrift „Betreten verboten“ einfach von der – leeren – Rückseite zu lesen.
Wir schaffen das!
Dem schnippischen Guthrie folgt in unserem Programm die quasi-religiöse Prophezeiung, dass das Gute dereinst siegen wird. „We Shall overcome“ heißt der alte Gospelsong des afroamerikanischen Pfarrers Charles Albert Tindley, dessen Melodie teils identisch ist mit dem Weihnachtslied „O du fröhliche“. Mitte der 1940er wurde er zum Streiklied der Tabakarbeiter; seine bis heute gültige Fassung erhielt er aus den Händen des legendären Folk-Sängers und Aktivisten Pete Seeger. Weil darin vieles offen bleibt, zum Beispiel, was es konkret zu „überwinden“ gälte und mit welchen Mitteln, funktioniert „We Shall Overcome“ bis heute als integrale Hymne der Bürgerrechtsbewegung. Legendär wurde etwa die Performance von Joan Baez‘ unverkennbarer Espenlaubstimme am 28. August 1963 vor 150.000 Teilnehmenden des „Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit“.
Zeit, aufzuwachen.
In jenen Spätsommertagen 63 war Baez‘ Busenfreund Bob Dylan gerade im Begriff, eines der wichtigsten Protestalben der Popgeschichte aufzunehmen: „The Times They Are a-Changin’“. Der Titelsong, dessen erste Strophe sich auch als visionäre Klimawandel-Strophe verstehen lässt, ist ein unmissverständlicher Appell an die Eliten, gesellschaftliche Missstände nicht länger hinzunehmen und Verantwortung zu übernehmen.
1, 2, 3 – what are we fighting 4?
Das half natürlich nichts – und neben all den US-internen Konflikten spitzte sich auch der Kalte Krieg immer mehr zu. Einer der genialsten Anti-Vietnamkriegs-Songs ging 1969 in der Live-Version von Woodstock um die Welt. Country Joe McDonald, vom Veranstalter als ungeplanter Umbaupausen-Act auf die Bühne geschoben, stellte in seinem rasanten „I-Feel-Like-I’m-Fixin’-to-Die Rag“ mit jedem Refrain die Frage: „Wofür kämpfen wir?“ – und deutete ein paar Antworten an: Die US-Soldaten, so sein Befund, kämpften für ihre Eltern, denen in ihrem Wohnblock als Ersten die Ehre zuteilwerden konnte, ihren Sohn in einer Holzkiste zurückzubekommen.
In Liebe vereint?
Scheinbar Welten entfernt von solch bitterem Realsarkasmus formulierten die Beatles zu dieser Zeit die einfachste und zugleich universellste aller Botschaften: „All You Need Is Love“. Ihr Song, 1967 für die erste weltweit live übertragene Fernsehsendung „Our World“ komponiert, wurde zum globalen Werbeträger der hoffnungsfrohen Hippie-Idee, dass die aus den Fugen geratene Welt an mehr Sex und/oder Nächstenliebe genesen könne. Ob er wirklich so gemeint war, oder ob Textautor John Lennon sich ganz im Gegenteil ein bisschen lustig machte über die allzu simplen Heilsfantasien der Blumenkinder, müssen wir hier nicht klären.
Wutlied I
Völlig unzweideutig ist die Haltung unseres nächsten Protestlieds. Rio Reiser, damals ein Berliner Milchbub mit Schnauzbart, langen Haaren und E-Gitarre, schrie sich 1970 als Chef der Band Ton, Steine, Scherben seine Wut gegen die westliche Weltordnung aus dem Leib. Das holzschnittartige Mantra gegen Konsumwahn, Fortschrittshörigkeit und Kapitaldiktatur, ursprünglich für ein Theaterstück komponiert, wurde zum deutschsprachigen Protestlied schlechthin. Sein Titel: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ verselbstständigte sich als Slogan an unzähligen Hauswänden.
Wutlied II
Einmal im antikapitalistischen Deutschland gelandet, nehmen wir noch eine weniger berühmte Rarität mit: Joseph Beuys, bildender Künstler, sozialer Plastiker und Mitbegründer der Grünen, wurde anlässlich eines Besuchs des US-Präsidenten Ronald Reagan, bei dem es um eine Aufstockung der Atomraketenarsenale in Europa ging, zum Popsänger. Vor 400.000 Teilnehmenden einer Friedensdemo in Bonn kletterte Beuys auf die Bühne – und schleuderte dem unwillkommenen Staatsgast eine holprige Reimtirade entgegen: „Ob West, ob Ost / auf Raketen muss Rost!“
Apocalypse Now!
Die (immer noch) drohende nukleare Apokalypse ist Gegenstand eines der eindringlichsten Rocksongs aller Zeiten, Radioheads „Idioteque“. Gitarren oder gar klassische Songstrukturen suchen wir in dieser visionären Musik vergebens. In atemlosen Halbsätzen und deliriösem Falsett beschwor Sänger Thom Yorke im Jahr 2000 die Horrorimagination von einem Leben im Luftschutzbunker, während ein akustischer Weltuntergang auf uns einprasselt. Die unwirklich leuchtende Oberton-Fanfare, die Radiohead anstelle einer Akkordbegleitung verwenden, ist ein Soundsample aus dem Stück „Mild und Leise“ (1973) des US-Komponisten und Computermusik-Pioniers Paul Lansky, dem dieser wiederum Richard Wagners berühmten Tristan-Akkord zugrunde legte. Wir dürfen gespannt sein, mit welchen Klangmitteln unsere erlesene Coverband diese Vorlage realisiert …
Lied (von) der Erde, anno 2019
Womit wir musikhistorisch in der Gegenwart ankommen, bei einer Altersgenossin und erklärten Unterstützerin Greta Thunbergs. Sie heißt Billie Eilish, ist 19 Jahre alt, und erschafft gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Finneas im kalifornischen Elternhaus Songs für ein Milliardenpublikum – wie „All the Good Girls Go to Hell“. Ob Billie mit den braven Mädchen, die in die Hölle kommen, all jene Schülerinnen meint, die Freitags in der Schule sitzen, anstatt wie Greta für das Klima zu streiken? Gut möglich. Aber so genau soll man Pop-Texte gar nicht entschlüsseln wollen. An anderer Stelle wird dieser Klimawandelsong, in dem unser bunter Heimatplanet als lyrisches Ich auftritt, dann doch explizit: „In Kalifornien brennen die Hügel […] Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.“
Schlussplädoyer aus Graz
Explizit mag es auch die Grazer Musikerin Eva Jantschitsch alias Gustav: „Rettet die Wale und stürzt das System!“ Die idyllischen, im Dreierschritt wiegenden Klänge aus dem Jahr 2003, in die sie ihre hochpolitischen Botschaften verpackt, erinnern wohl nicht zufällig an Louis Armstrongs „What A Wonderful World“. So schließt sich ein Kreis: Ja, es ist eine wundervolle Welt. Aber haben wir sie auch verdient?
Encore
Ja, wir geben es zu, wir hatten für die Live-Show eine Zugabe vorbereitet. Zwei sogar. Sie werden im Livestream nicht fehlen. Because we want more:
Listen on Spotify – die Playlist zum Stream: