In der Notenwerkstatt
share on facebookFree Jazz-Combos kommen oft ohne aus, Garagenbands auch, und Techno-DJs sowieso. Aber was wäre ein klassisches Orchester, was wäre ein Barockorchester ohne seine Noten? Eben. Aufgeschmissen.
Am Montag, dem 28. September starten wir unsere neue Orchestersaison mit Barockmusik und wir können es kaum erwarten. Aber bevor in der ersten Probe der erste Ton erklingen kann, gibt es eine Menge zu tun.
Vor allem für Gertraud Heigl, die das Orchester recreation jahraus, jahrein hegt und pflegt, damit unsere Musiker*innen auf der Bühne Schönstleistungen abrufen können. Schon im Juli – da lief noch die styriarte – hat sie begonnen, eine Besetzung zu organisieren. Und wie immer exzellente Musiker*innen aus dem recreations-Pool gewonnen. Wobei Gertraud diesmal bis zum letzten Moment um ihr Orchester, das teilweise von weit her anreist, zittern wird: Wenn bei den Corona-Tests vor der ersten Tutti-Probe jemand positiv ist, dann ist Feuer am Dach, dann blühen ihr ein paar Extraschichten am Telefon.
Die Besetzung macht den Sound
Stimmen zu streichen ist jedenfalls keine Option, denn bei der Besetzung gibt es wenig Spielraum. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Karajan für Beethovens Fünfte zehn (!!!) Kontrabässe in Reih‘ und Glied inszeniert hat, hauptsächlich deshalb, weil das für die Filmkameras ein kolossales Bild hergab.
Harnoncourt ist später bei seinen legendären styriarte-Produktionen mit lediglich drei Bässen ausgekommen.
Nicht erst seit damals versucht das Haus styriarte, möglichst nahe am historisch rekonstruierten Originalklang zu spielen.
So wie der Ton die Musik macht, so definiert die Besetzung den Sound. Das gilt zum Saisonauftakt nicht nur für die fidele Hirtenfelder Volksmusikgruppe rund um Sepp Pichler, sondern auch für das Ensemble von recreationBAROCK. Wobei beide natürlich denkbar weit von Karajan’schen Dimensionen entfernt sind. Für die Serenada von Fux lautet die Besetzungsformel konkret:
3/3/2/2/1.0201.0200.Cemb.
Diese Form der Zahlenreihe hat sich im modernen Orchesterbrauch eingebürgert, und schaut für ein Barockorchester ein wenig komisch aus. Das soll es heißen:
Streicher: 3 Erste Geigen, 3 Zweite Geigen, 2 Bratschen, 2 Celli, 1 Kontrabass
Holzbläser: 0 Flöten, 2 Oboen, 0 Klarinetten, 1 Fagott
Blechbläser: 0 Hörner, 2 Trompeten, 0 Posaunen, 0 Tuben
Und natürlich das Cembalo von Michael Hell, der den Abend leitet.
Macht insgesamt 17 Musiker*innen. Dazu kommt noch Schlagwerk, das zwar nicht in der Partitur steht, aber seinerzeit bei der Uraufführung, bei der pompösen Hochzeitsparty am Kaiserhof zu Wien, ziemlich sicher zum Einsatz gekommen ist.
Die Nürnberger Fassung
Das war im Jahr 1699, ist also schon ein Weilchen her. Zwei Jahre später ging die Fux-Serenada als erste von sieben Partiten seines berühmten „Concentus musico-instrumentalis“ in Nürnberg in Druck. Und aus genau diesen Blättern wird recreationBAROCK am Montag im Stefaniensaal spielen. Es sind wunderschöne Blätter mit geneigten Notenköpfen, eigenwillig geschwungenen Violinschlüsseln und verwortackelten Linien. Sie scheinen das musikalische Material viel unmittelbarer aus der Geschichte zu uns zu transportieren als ein steriler Neudruck.
Aus alten Noten zu spielen, sei in der Barockszene zwar nicht ungewöhnlich, erzählt Gertraud, „aber diesmal gibt es die Einzelstimmen wirklich nur in dieser einen Fassung, die 1701 erschienen ist, in einer sehr kleinen Auflage. Davon ist auch nur ein Exemplar erhalten. Irgendjemand in der Berliner Staatsbibliothek hat es dankenswerter Weise eingescannt und ins Netz gestellt, so dass wir darauf zugreifen können.“
Die zweite Quelle, aus der J. J. Fux heute – wenn auch indirekt – zu uns spricht, ist eine Gesamtpartitur von 1916. Damals gab es eine Art Fux-Renaissance, und sein „Concentus“ kam in der Reihe „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“ (DTÖ) heraus. Initiator war damals der Urvater der modernen Musikwissenschaft, Guido Adler.
Ko-Autor
Mit dieser Gesamtpartitur bereitet sich unser Kapellmeister Michael Hell auf das Konzert vor. Und bevor er sein Ensemble zur ersten Probe trifft, muss er Hand anlegen an die Noten. Zum einen musste er zwei Seiten der Bratschenstimme, die in den Originalquellen fehlen, eigenhändig ergänzen (wobei er sich zum Teil an der 1916er-Rekonstruktion von Heinrich Rietsch orientiert hat). Zum anderen hat er sein Expertenwissen über die barocke Musizierpraxis genutzt, um die seinerzeit üblichen Verzierungen für seine Ensemblekolleg*innen im Voraus zu notieren. Und dann sind da noch die Auf- und Abstriche der Streicherbögen, die synchronisiert gehören. Das schaut nicht nur besser aus auf der Bühne, sondern klingt auch richtiger. Gerade die historischen Bögen und Darmsaiten erzeugen je nach Strichrichtung durchaus unterschiedliche Sounds.
So wird der Interpret Michael Hell quasi zum Ko-Autor Michael Hell. Und Gertraud Heigl seine Verlegerin. Sie trägt die Verzierungs- und Bogenvorschriften fein säuberlich in alle Einzelstimmen ein: „Das spart enorm viel Probenzeit, weil es die Musiker*innen nicht selber machen müssen.“
Fehler passieren
Bleiben immer noch die Fehler, die anno 1701 gemacht wurden beim Notendrucken: ein fehlendes Kreuz dort, ein b zu viel da, lauter Details, die den Teufel in sich tragen. Weil seinerzeit in Nürnberg die Neuerstellung fehlerhafter Druckplatten viel zu aufwändig gewesen wäre, hat der Verleger die „Errata“ kurzerhand auf einer eigenen Seite zusammengefasst, für jede Orchesterstimme einzeln. „Das ist ein Glück, dass die Errata schon im Original stehen. Oft muss man sie erst mühsam zusammensuchen“, meint Gertraud. Natürlich überträgt sie auch diese Korrekturen in den Notentext. Damit wir zum Beispiel „in der ersten Hautbois“ nicht ein D hören anstelle des E, das dort eindeutig hingehört …
Auf du und du mit Xaver
Zuletzt folgt der handwerkliche Teil der Heigl’schen Notenproduktion. Die perfekt vorbereiteten Orchesterstimmen sollen am Ende ja gut lesbar auf den Pulten der Stefaniensaalbühne landen. Da in Corona-Zeiten sämtliche Musiker*innen an einem eigenen Pult sitzen (oder mehrheitlich stehen), müssen sie auch einzeln blättern. Also organisiert Gertraud die Noten auf den Blättern so, dass jeweils während einer Pause umgeblättert werden kann.
Für den endgültigen Druck verwendet sie ein festeres, matteres Papier im etwas größeren B4-Format. Die Medienfabrik hat es extra für uns zugeschnitten. Wie gut, dass Xaver mit diesem Papier arbeiten kann. Schnurrend schluckt er die Noten und spuckt sie, um 20 Prozent vergrößert, wieder aus. Xaver, so heißt der große Kopierer im styriarte-Büro. Gertraud: „Wir haben ein Naheverhältnis.“