Von Thomas Höft
Ich kann mich noch ganz genau erinnern, obwohl ich nicht dabei gewesen bin. Zumindest die Orte waren noch da, in meiner Kindheit in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: der Bahndamm mit dem Sägewerk, die Brache mit der wie vergessen auf einem Abstellgleis herumstehenden Lore … Alles so, als ob Rita und Evelyn und Ursula gerade erst gestern dort heimlich geraucht hatten und sich weggeträumt aus Lüchow, dem Provinznest an der Zonengrenze zu Ostdeutschland, wohin sie allesamt der Krieg verschlug.
Ich habe die Geschichten sicher hundert Mal gehört von meiner Mutter Rita, schließlich war das Ganze grad mal zehn Jahre her, als ich geboren wurde, ich bin Jahrgang 1961. Und als mich Mathis Huber fragte, ob ich für das heurige PSALM.for_future-Festival einen Abend über das Wirtschaftswunder gestalten wolle, mit Eddie Luis und seinen Gnadenlosen als Schlager-Showband und mit Rosi Degen als Schauspielerin, da fiel mir das alles wieder ein. Und ich dachte mir, warum nicht einfach aus dem überreichen Fundus der Erinnerung schöpfen? Schließlich handelt es sich um eine geradezu idealtypische Nachkriegsgeschichte … zugegeben allerdings eine sehr deutsche.
Wenn Sie Lust haben, liebe Blog-Leser*innen, dann führe ich Sie ein wenig durch den Abend und gebe Ihnen dabei etwas von der norddeutschen Perspektive mit, aus der mein Text geschrieben ist. Das Wendland liegt direkt am Westufer der Elbe, im Dreieck zwischen Hamburg, Berlin und Hannover, und zwar ziemlich im Nichts. All die Menschen, die im Winter 1944/45 versuchten, aus den preußischen Gebieten vor der vordringenden russischen Armee zu fliehen, wollten es unbedingt über die Elbe schaffen. Denn sie vermuteten zu Recht, dass der mächtige Strom eine Art natürlicher Grenze zwischen den amerikanische und englischen Verbänden auf der einen und den russischen auf der anderen Seite bilden würde. Und „dem Russen“, wie die Deutschen damals ebenso furchtsam wie abschätzig die Soldaten der Roten Armee nannten, wollte niemand in die Hände fallen – wußten doch alle, was wir Deutschen zuvor mit ihrer Heimat angestellt hatten.
Auch Rita schafft es mit ihrer Familie auf einem Traktor mit angehängtem, selbstgezimmerten Wohnwagen über den Fluß. Und wer den Text des Monologs vor Augen oder vor Ohren hat, der erkennt, dass die dort erzählte Geschichte wahr sein könnte. Und tatsächlich: sie ist es. Meine Mutter hat mir alles, was sie betrifft, so erzählt. Ob ihre Phantasie mit ihr durchging, kann ich nicht sagen, aber es gab wohl den Officer von der Military Police mit Kaugummi und Cola. Es gab sicher – ich habe sie selbst so kennengelernt – die strenge Mutter, die nach dem Tuberkulosetod des Vaters ganz allein mit dem Traktor einen Kohle- und Ölhandel aufbaute – die ersten Kohlen dafür hat meine Mutter als Kind eigenhändig von einem herrenlosen Eisenbahnwagon geklaubt. Und tatsächlich wollte sie unbedingt Schauspielerin werden, hat schöne Fotos von sich machen lassen (mit Akkordeon und im Bikini am Strand), sich aber am Ende doch nicht getraut. Mit 60 Jahren hat sie dann wieder damit angefangen, aber das ist eine andere Geschichte…
Und auch all die anderen Geschichten hat sie mir erzählt – allerdings habe ich die alle aus dramaturgischen Gründen auf die wunderbare Evelyn konzentriert. Die beste Freundin meiner Mutter lebt heute noch, hochbetagt. Und sie ist tatsächlich mit einem Handelsvertreter in den Ruhrpott gezogen, aber die anderen, teils schrecklichen Geschichten, die habe ich der Figur gleichen Namens angedichtet … die sind wohl ihren Freundinnen tatsächlich passiert, aber nicht Evelyn.
Wenn man von Norddeutschland nach Italien fährt, dann muss man über die Kasseler Höhen. Diese Ausläufer eines Mittelgebirgszuges nötigen Österreichern höchstens ein leichtes Schmunzeln ab, den schwachmotorigen kleinen Autos der Fünfziger Jahre machten sie jedoch gehörig zu schaffen. Tatsächlich strömten damals alle, die es sich schon leisten konnten, an die Adria. Jesolo lag am günstigsten und entpuppte sich ebenso als Touristenmagnet wie Paris.
Schlager erzählen eine unglaublich schöne und präzise Geschichte von den emotionalen Strömungen, die Gesellschaften und Epochen ausmachen. Und so können Eddie Luis und seine Gnadenlosen aus dem Vollen schöpfen, um die Italiensehnsucht und die Pariseuphorie der Fünfziger zu besingen. Italien wird mit Sommer, Sonne und Freiheit in Verbindung gebracht … Klischees natürlich, aber kollektiv ungeheuer wirksam. Und Paris schaffte es als anzügliche „Stadt der Liebe“ ins Gedächtnis der Deutschen, die dort einen Ausweg aus der muffigen, sittenstrengen Verklemmtheit der Nachkriegszeit ersehnten.
Tatsächlich kann man sich das Nachkriegsdeutschland kaum konservativ genug vorstellen, insbesondere was Sexualität und die Gleichberechtigung von Frauen anging. Als meine Mutter von meiner Großmutter dabei erwischt wurde, dass sie mit meinem späteren Vater Händchen haltend durch die Stadt ging, bekam sie eine schallende Ohrfeige auf offener Straße. Überhaupt war das Schlagen an der Tagesordnung. Zuerst waren es die Eltern, und dann schlugen die Ehemänner ihre Frauen weiter. Denn die hatten zu gehorchen. Um arbeiten und Geld verdienen zu dürfen, brauchten Frauen damals die Erlaubnis ihrer Ehemänner. Die verfügten selbstverständlich auch über das gemeinschaftliche Geld, und konnten Sex von ihren Frauen als ihr verbrieftes Recht verlangen.
Kein Wunder, dass sich Frauen in Schlagern wie „Ein Schiff wird kommen“ in eine andere Welt träumten, nur dass sie irgendwann darauf kamen, dass sie für ihre Freiheit selbst kämpfen mussten. In diesem Zusammenhang wird etwas wichtig, was wir heute mit unserer Kritik an der Überfluss- und Konsumgesellschaft eher kritisch wahrnehmen: die Technisierung des Haushalts und der Nahrungsmittel. Noch bis nach dem Krieg war Hausarbeit eine einzige Schufterei, und der Hunger war bei den meisten Menschen, die nicht gerade in der dünnen Oberschicht daheim waren oder über einen Hof verfügten, ein regelmäßiger Gast. Doch die Waschmaschine und der Kühlschrank befreiten die rund um die Uhr Tag ein Tag aus zur Hausarbeit gezwungenen Hausfrauen enorm. Und die Konserventechniken, die Haltbarmachung von Speisen und schließlich die industrielle Massenproduktion an Nahrungsmitteln machten auch einfache Leute unabhängiger vom Jahreslauf und von der ständigen Sorge um die Bevorratung. Der emanzipative Effekt der Warenwelt ist nicht zu unterschätzen, und genau das macht heute unsere Probleme so brennend. Tatsächlich konnte sich meine Mutter in den Fünfzigern nicht vorstellen, dass einmal jede_r einen Fernseher und ein Auto besitzen würde. Und was steht uns heute zur Verfügung? Die Freiheit, die der Konsum durchaus bedeuten kann, ist heute der psychologisch größte Gegner einer Veränderung. Denn wer sind wir, die ärmeren Gesellschaften das vorenthalten wollen, was sich unsere Eltern damals so dringend ersehnten: ein gutes Leben.
Aber wer die Augen aufmachte, konnte schon damals die unfreundlichen Zeichen an der Wand sehen: die Umweltverschmutzung nahm beängstigende Züge an, die Schornsteine der Boomregionen bliesen ungefiltert Gifte in die Welt, und der ausufernde Straßenverkehr kostete immer mehr Tote. Und so senden Lieder wie das unvergessene „Ich will keine Schokolade“ aus dem Jahr 1959 eine klare Botschaft: Trude Herr gibt zu verstehen, dass sie keine Lust auf weiteren Wohlstand hat und darauf, ihre Sehnsüchte mit Essen zu stillen. Schließlich gibt es noch ganz andere Bedürfnisse. Doch bis zur befreiten Sexualität ist es da noch ein längerer Weg. Erst die Verhütung und die Hippie-Bewegung in den Sechzigern schafft die von Trude Herr zuvor erhoffte Revolution.
So hat die Wirtschaftswunderzeit also zahlreiche Abgründe zu bieten, was rücksichtslose Umweltverschmutzung ebenso betrifft wie soziale Ungerechtigkeiten und die massive Unterdrückung der Frau (gar nicht davon zu reden, dass Homosexuelle wie ich damals noch nach den selben Gesetzen weggesperrt wurden wie unter den Nazis, und eine überwiegende Mehrheit der Leute fand, dagegen sei nichts einzuwenden.) Dazu lieferte sie auch persönliche Tragödien wie die vom berühmten Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, die ich mir ebenfalls nicht ausgedacht habe. Der abgehalfterte Schauspieler, der zum Fernsehstar aufstieg, konnte wirklich nicht kochen, das erledigte seine Frau im Hintergrund. Aber er konnte die Sehnsüchte der Zeit wie kein anderer in Rezepte umsetzen, wie hier die „Gefüllte Erdbeere“.
Natürlich hatte meine Mutter auch das Kochbuch „Clemens Wilmenrod bittet zu Tisch“ bei uns zu Hause. Ich hab es immer noch. Es erinnert mich daran, dass wir alle irgendwo herkommen, dass die Werte und die Geschichten, mit denen wir aufwachsen, einen großen Einfluss auf unser Leben haben. Und dass wir sie – wenn wir wirklich wollen – auch hinter uns lassen können. Um aufzubrechen in eine Zukunft, die wir uns anders erträumen als unsere Gegenwart und schon gar als unsere Vergangenheit. Meine Mutter hat es geschafft, warum sollte es mir, Ihnen, uns denn nicht auch gelingen…