Von Matthias Wagner
Ta-Ta-Ta-Taaaa. „So pocht das Schicksal an die Pforte“. Oder doch nicht? Seit Beethovens Sekretär Anton Schindler das angebliche Schicksals-Zitat seines Meisters in Umlauf gebracht hat, scheiden sich die Geister an der Frage, was uns dieses Monument der Musikgeschichte erzählen will. Ob es uns etwas erzählen will.
Natürlich stecke „hinter jeder dieser Symphonien eine Geschichte“, sagt dazu Maestro Michael Hofstetter, der unser Orchester recreation am 12. und 13. Oktober durch Beethovens Opus 67 dirigieren wird. Aber zu genau wolle er es nicht benennen. „Weil ich glaube, dass auch der Beethoven es nicht genauer benannt haben wollte.“
Eine ziemlich konkrete „Geschichte“ hat hingegen Nikolaus Harnoncourt beim Dirigieren der Fünften erlebt – zumindest im Sommer 2007, als er das Werk bei der styriarte aufführte. Er hörte im berühmten Hauptmotiv nicht das Schicksal klopfen, sondern das Rütteln politischer Gefangener an ihren Ketten. Davon abgeleitet, erklärte er die ganze Symphonie zur Revolutionssymphonie:
Und siehe da! Die Fünfte klang plötzlich völlig anders, als wir sie bis dahin von ihm kannten. Wie anders, das ist faszinierend. Und das werden wir weiter unten zeigen.
PROGRAMMENTWURF AUS DUNKELSTER ZEIT
Zuerst aber wollen wir uns anschauen, woher Harnoncourt die Idee von der „Revolutionssymphonie“ hatte. Die kam nämlich nicht aus dem Nichts, sondern höchstwahrscheinlich (belegt ist das nicht) von Arnold Schering (1877 – 1941), dem einflussreichen deutschen Musikwissenschafter, der leider auch ein waschechter Nazi-Funktionär war.
Schering hat für alle Beethoven-Symphonien ein „Programm“ entwickelt, hat sie mit Szenen von Shakespeare und Schiller abgeglichen und sozusagen zu klingenden Dramen umgedeutet. Eine Methode, die ihm auch unter den nationalsozialistischen Kollegen mehr Feinde als Freunde machte. „Absolute Musik“ mit expliziten Inhalten zu befrachten, war schon damals ziemlich aus der Mode.
Bei der Fünften macht Schering insofern eine Ausnahme, als er sie nicht mit einem bestehenden Stoff von Shakespeare oder Schiller unterlegt, sondern seine eigene Geschichte dazu erfindet. Seinen gesamten Aufsatz darüber kann man »hier nachlesen.
ZUFALL EHER AUSGESCHLOSSEN
Vergleicht man Scherings Deutung mit den Aussagen Harnoncourts im Umfeld seiner styriarte-Aufführung von 2007, ergeben sich starke Parallelen, die kaum zufällig sein können. Harnoncourt hat sich eindeutig von Schering inspirieren lassen. Aber – wenig überraschend – dann doch sein ganz Eigenes daraus gemacht.
Darin, dass das berühmte Ta-Ta-Ta-Taaaa nicht das Pochen des Schicksals darstellt, sind sich beide einig. Harnoncourt: „Auf die Idee, dass da das Schicksal klopft, würde ich nie kommen.“ Schering: „Mit dem Schicksalsbegriff allein kann keine ernsthafte Deutung etwas anfangen.“
Erster Satz: Kettenrasseln und Tyrannenwut
Anders als Harnoncourt deutet Schering das Hauptmotiv des Kopfsatzes zunächst nicht als Kettenrasseln, sondern als „drohende musikalische Geste der Tyrannenwut.“ Doch schon bei Schering findet sich die Deutung des Kurz-kurz-kurz-lang-Motivs als „rasendes Rütteln der Menge an den Fesseln“, und zwar später in der Reprise (Takte 374 bis 397). Das lyrische Thema ab Takt 63 steht bei Harnoncourt für die Utopie von einer freien Welt, bei Schering hingegen für „das Bild einer schützenden, beruhigenden Geste, etwa der Mütter […]“, das in einem Crescendo zum Erlösungsgedanken führt: „Ach wären wir erst frei, alles wäre gut!“ Harnoncourt weicht also in seiner Schilderung von jener Scherings ab, verbiegt den Ansatz aus dem Jahr 1934 im Sinne einer persönlicheren Deutung.
Zweiter Satz: Gebet und Ruf
Mehr als eindeutig ist die Übereinstimmung bei der Interpretation des zweiten Satzes: Für Harnoncourt ist das Hauptthema „ganz sicher ein Gebet. Da sind einige Gebetsformeln drinnen. In der Unterdrückung ist das Gebet etwas sehr Natürliches, um sich Hoffnung zu holen.“ Schering bezeichnet das Hauptthema als „Gebetsausdruck“, er dichtet sogar einen Gebetstext dazu:
Das Fanfarenthema ist für Schering der „Ruf nach dem Retter“ – bei Harnoncourt ist es der „Zwischenrufen derer, die nicht auf Gott vertrauen wollen, sondern den Umsturz selbst herbeiführen.“
Dritter Satz: Quälende Angst und Studentenrevolte
Im dritten Satz hört Schering ein „quälendes Angstmotiv“ der Celli und Bässe in den ersten vier Takten, gefolgt von der Frage: „Wer wird unser Retter sein?“
Es folgt für Schering mit den schmetternden Hörnern eine Rettungs-Prophezeiung. Harnoncourt deutet das Scherzo als „Revolution der Studenten – idealistisch, aber nicht effektiv.“ Mit dem Hauptthema würden die Erwachsenen zunächst noch die Erwartungen dämpfen. Erst mit Eintritt des gleichmäßigen Paukenpulses – kurz vor dem attacca-Eintritt des Finales – würde die gesamte Gesellschaft mitziehen. Harnoncourt bei den Proben 2007 zum Chamber Orchestra of Europe: “Believe me, I am sure it is like that!”
Vierter Satz: Held, Retter, Befreiung, Triumph
Schering schließlich über den Finalsatz: „Hier liegen keine Schwierigkeiten der Deutung mehr vor. Der Held und Retter erscheint im vollen Glanze des großen Menschen und Politikers, umjubelt und umspielt von den Tausenden, die ihn ersehnten.“
Und an dieser Stelle wird es unappetitlich im Scherings Aufsatz aus dem Jahr 1934. Zwar ist er sich im Klaren darüber, dass Beethoven anno 1808 beim Komponieren nicht an die Deutschen, sondern an die Französische Revolution gedacht hat. Schließlich zitiert der Finalsatz mindestens eine französische Befreiungshymne. Aber Schering macht daraus eine „Symphonie der nationalen Erhebung“, um dann mit einer klaren Anspielung auf Adolf Hitler zu schließen (beim Lesen lieber die Nase zuhalten): „Das vage ,Per aspera ad astra‘ in der c-moll-Symphonie würde, umgedeutet in das Bild des Existenzkampfes eines Volkes, das einen Führer sucht und endlich findet, sich in ein Sinnbild verwandeln, das gerade uns Deutschen der Gegenwart in voller Tageshelle entgegenleuchtet.“
Von solchen deutsch-völkischen Grauslichkeiten ist bei Nikolaus Harnoncourt natürlich keine Spur. Seine Vision des Finales ist stark durch die ungewöhnliche Besetzung mit den „militärischen“ Instrumenten Posaune, Kontrafagott sowie Piccoloflöte geprägt: „Beethoven tritt auf den Balkon hinaus vor eine Menschenmenge und sagt etwas Grandioses. Das war mir schon länger klar. Aber jetzt erst weiß ich: Es geht um eine Befreiung und einen Triumph.“ Der Triumph sei das einzige pathetische Element in der gesamten Symphonie: „Deshalb ist uns der Triumph auch unsympathisch. Selbst wenn die gute Sache triumphiert, wird es am Ende wieder lächerlich.“
UND? HÖRT MAN DEN UNTERSCHIED? JA. UND WIE!
Und jetzt die große Frage: Klingt eine Symphonie anders, wenn sich Dirigent und Orchester dazu eine Geschichte vorstellen? Eindeutige Antwort: Ja. Zumindest im Fall von Nikolaus Harnoncourt ist das klar nachvollziehbar. Zweimal hat er die Fünfte bei der styriarte gegeben, jeweils mit dem grandiosen Chamber Orchestra of Europe.
Das erste Mal, 1990, höchstwahrscheinlich ohne Inhaltsangabe:
17 Jahre später, im Sommer 2007, hatte Harnoncourt ein Programm, und das Ergebnis klang so:
Die Unterschiede sind gewaltig. 1990 hielt sich Harnoncourt deutlich zurück, hielt gleichmäßige Tempi, formte mit unerhört transparentem Orchesterklang liebevollste Details. 2007, vom Revolutionsgedanken befeuert, schlug er deutlich schnellere Tempi an, spitzte die Kontraste zwischen motorischen und lyrischen Momenten extrem zu und formte einen viel schärferen, grelleren Orchesterklang.
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