Und kann man das? Weiterspielen, weitersingen, weiter gute Laune machen, während nebenan ein Land mit einem brutalen Krieg überzogen wird?
Ein Statement von Mathis Huber.
Schon eine erstaunliche Frage, die ich mir da stelle. Seit mehr als dreißig Jahren, seit wir im Hause Styriarte spielen, singen, gute Laune machen, spielen wir im Krieg. Von Sarajewo bis Bengasi, von Aleppo bis Kabul haben wir endlose Leiden berichtet bekommen, Qualen ohne Unterlass auf allen Kontinenten, während wir gespielt haben, ohne weiter zu fragen. Jetzt ist etwas anders geworden. Jetzt schnürt es uns die Kehle zu, wenn wir an Kiew denken, an Charkiw, und was da noch kommen wird. Jetzt spüren wir nicht diese allgemeine Betroffenheit, jetzt spüren wir es ganz konkret. Da ist nicht ein weiterer Krieg ausgebrochen, ein Überfall mit Kanonen und Bomben und Raketen, in der Ukraine, tausend Kilometer weit weg. Wir spüren: Da geht es um uns. Das ist unser Krieg, der da geführt wird, von den Held:innen in der Ukraine, die ihr Leben aufs Spiel setzen, und von den Held:innen in Russland, die sich diesem Krieg verweigern. Wir spüren: Das ist ein Krieg, in dem unsere Werte verteidigt werden, unsere Freiheit, unsere Würde, und deshalb stellt sich jetzt die Frage so massiv und so neu: Dürfen wir spielen in dieser Situation, in der Männer und Frauen um ihr Land kämpfen und zugleich um unsere gemeinsame Idee von Freiheit?
Unbedingt, meine ich, was unser kommendes Osterfestival betrifft: Wir haben unseren PSALM der Frage gewidmet, wie man die Welt zu einem besseren Ort machen kann. „Be The Change“ ist unser Wahlspruch zu Ostern 2022, und wir erzählen mit zauberhaften Kunstproduktionen davon, wie man unseren Planeten, der so schwer an der Krankheit „Homo sapiens sapiens“ leidet, in eine glückliche Zukunft für alle seine Bewohner:innen führen kann. Wir hatten dabei an ein ziviles Ambiente gedacht, aber man kann und muss diese Geschichten auch jetzt erzählen, mitten im Krieg. Sie werden sogar essenzieller. Aber dann …
Für den Sommer 2022, für das Festival Styriarte, wollen wir uns „Auf Reisen“ begeben. Wir wollen mit einer sehr heiteren Erzählung diese bleierne Decke der Corona-Zeit wegstrampeln, die uns seit zwei Jahren die Luft zum Atmen nimmt. Aber seit 24. Februar fragen wir uns jetzt: Darf man das? Ist es richtig, heitere Geschichten zu erzählen, während Menschen sich opfern für unsere gemeinsame Idee von Freiheit?
Es wäre das Einfachste für uns, die wir da halbwegs sicher an der Seitenlinie des Schlachtfelds stehen, einen aus dem Feld zu fragen, am besten Wolodimir Selenski. Ich bin dem Mann, dem Präsidenten der Ukraine, dessen Namen ich bis dahin nicht buchstabieren hätte können, seit dem 23. Februar 2022 für ewig verfallen. Er hat an diesem Tag mit einer Rede an die Russen, an die Invasoren in spe, in ein paar Minuten alles klar gemacht, was Tonnagen von Putinʼscher Propaganda vernebeln wollten, er hat die Ukrainer auf ihr Los als Helden und Heldinnen eingeschworen, er hat den Russen Mut gemacht, ihre Mafia-Führung in Frage zu stellen, er war schlicht und ergreifend ein Staatsmann, so wie man sich das im Traum vorstellt.
Wir wollen einen Staatsmann, der gerade eine große Nation und nebenbei ohne Absicht einen ganzen Kontinent zusammenhält, nicht mit Bagatellen aus unserem Elfenbeinturm behelligen, daher beantworte ich mir meine Frage selber. Aber ich stelle mir dabei doch vor, was mein neuer Held sagen würde, und das klingt etwa so: „Spielt, was ihr wollt, Musik immer gern, das verbindet die Völker, aber bevor ihr spielt, sorgt dafür, dass wir genug Munition haben für den morgigen Tag und die morgige Nacht“. Und so wollen wir es halten. Die Führer:innen der freien Welt scheinen es auch verstanden zu haben, erstaunlicherweise. Helfen wir ihnen, klug und mutig zu bleiben und signalisieren wir ihnen, dass wir bereit sind, für unsere Werte auch den Preis zu zahlen, den sie kosten.
Also, was tun im Elfenbeinturm? Wir bleiben dabei, wir gehen mitten im Krieg „Auf Reisen“, wir stärken dabei unsere Gemeinschaft, damit sie fit bleibt und den Nachschub im Auge behält. Und die Styriarte 2023 widmen wir den Helden und den Heldinnen, die für unsere Werte gekämpft haben und kämpfen, zuallererst Wolodimir Selenski, und wir wünschen uns ganz heiß, dass er dann auch noch lebt.
Mathis Huber