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Das größte Instrument im Raum

Mei-Ann Chen, lachend, blickt in die Kamera
© Nikola Milatovic

Mei-Ann Chen, Chefdirigentin von Recreation - Das Orchester

Von Ariane Pakisch | Neue Wege für die Klassik

Mei-Ann Chen ist die neue Chefdirigentin von Recreation! Eine kleine Sensation, eine große Gelegenheit. An dieser Stelle könnte nun die übliche Aufzählung von Preisen und prestigeträchtigen Orchestern stehen. Aber um ehrlich zu sein, das können Sie auch die Suchmaschine Ihrer Wahl fragen. Oder auf ihrer Künstlerinnen-Seite hier auf STYRIARTE.COM nachlesen. Mei-Ann Chen reißt Wände eines sehr alten Hauses auf – und sie setzt sich dafür ein, dass diese neu aufgebaut werden. Ihre Liebe zu unbekannten (weil nicht weißen, nicht männlichen und nicht europäischen) Komponistinnen und Komponisten, ihre Liebe zu Jugendorchestern: Das und noch viel mehr zeichnet Frau Chen aus. 

Doch bei unserem Gespräch für diesen Artikel beschäftige uns vor allem ein Thema: Was würde Mei-Ann Chen heute zu sich selbst sagen, zu all den jungen Mädchen, die es wagen, Visionen zu haben? Welche Ratschläge, welche Erfahrungswerte kann sie weitergeben? Dieser Text ist all den Menschen gewidmet, die den Mut haben, in einer ungerechten Welt groß zu träumen. 

Ariane Pakisch und Dirigentin Mei-Ann Chen

1. Sei DU SELBST! 

Mei-Ann Chen: Als ich klein war, hörte ich immer die unterschiedlichsten Klänge. Nicht wie eine Komponistin hört, mit Melodien und Harmonien, sondern ich hörte die unterschiedlichsten Klangfarben. Später, nachdem ich in die USA gekommen war, bekam ich vermehrt Instrumentalunterricht. Ich lernte neben meinem Ursprungsinstrument, der Violine, auch Holz- und Blech- sowie Perkussionsinstrumente kennen. Mich faszinierten die unterschiedlichen Instrumente, die Violine war mir nicht mehr genug. Deswegen habe ich ständig versucht, wieder etwas Neues zu studieren. Ich begann deutsche Musiklexika auswendig zu lernen, weil ich die deutschen Begriffe in den Partituren, etwa von Mahler, verstehen wollte. Im Endeffekt war es die Neugierde an diesem Instrument, diesem großen Instrument „Orchester“, warum ich die verschiedensten Instrumentenfamilien spielen wollte. 

2. Hör nicht auf die Menschen, die sagen, dass deine Träume unmöglich sind!

Mei-Ann Chen: Ich spielte zum allerersten Mal mit zehn im Orchester. Dabei sah ich diese Person am Podium, die nur durch ihre Körpersprache in der Lage war, die großartigsten Klänge zu erzeugen. Ich war eigentlich ein scheues und ruhiges Kind, aber ich dachte, dass dies mein Weg sei, mit anderen zu kommunizieren. Also bin ich zu meinen Eltern und hab ihnen gesagt: „Ich möchte das größte Instrument im Raum spielen. Ich will Dirigentin werden!“ 

Meine Eltern seufzten und sagten, dass es unmöglich wäre. Sie würden niemanden finden, der mich unterrichten könne. Und sie hatten recht. Also nahm ich die Sache selbst in die Hand. Ich dachte, wenn ich schon keinen Lehrer habe, könnte ich trotzdem durch Beobachten studieren. So lernte ich meine Violinparts auswendig, und dem Dirigenten fiel gar nicht auf, dass ich schon mit zehn versuchte, seine Bewegungen zu kopieren. 

3. Finde und geh deinen eigenen Weg! Selbst wenn das anfangs schwer ist, es ist es wert.

Mei-Ann Chen: Meine Art, mit einem Orchester zu arbeiten, ist folgende: Ich betrachte die Musikerinnen und Musiker als gute Freunde und mich selbst als jene Person, die zufälligerweise kein Instrument in der Hand hat. Aber das bedeutet nicht, dass sie mir einfach nur folgen, denn ich bin überzeugt davon, dass die besten Ensembles die sind, in denen jeder aktiv Teil der Musik ist. In gewisser Weise führt also jeder, statt nur einer Person zu folgen. Ich wurde im Orchester groß und ich wollte nie die eine Person am Podium sein, die den anderen sagt, was sie zu tun haben. 

Inzwischen besitze ich genug Erfahrung, um zu wissen, wann ich dem Orchester diesen Freiraum geben kann. Sie sind alle kreative Individuen. Ich werde vor allem bei Übergängen oder plötzlichen Tempowechseln gebraucht. Es ist für mich also ein ständiger, oft schwieriger Balanceakt zwischen den Momenten, in denen ich die Führung übernehme, und Momenten, in denen ich das nicht tue. Aber das gibt den Musikerinnen und Musikern eine gewisse Freiheit. Die alten Tage des verehrten Maestros sind vorbei …

Dirigentin Mei-Ann Chen am Pult

4. Sei mutig! Finde deine eigene Stimme, trotz aller Hindernisse! 

Mei-Ann Chen: Ich lernte meine Lektion sehr früh. Wenn ich im Orchester einzelne Gruppen ansprach, die meistens von Männern dominiert waren, musste ich dies auf gewisse Art und Weise machen. Sonst hätten sie nicht auf eine Frau gehört. Vor allem auf eine jüngere Frau. Eine jüngere Asiatin! Daraus habe ich gelernt, dass Menschen dir alle möglichen Probleme bereiten können – aber im Endeffekt sind es ihre Probleme! Zumindest so lange, wie ich versuche, klar meine Prioritäten auszudrücken, solange ich am Punkt bleibe, mache ich einen guten Job, und es ist egal, ob ich eine Frau bin. Darauf versuche ich mich zu konzentrieren. Und manchmal wirst du fast besser sein müssen als deine Kollegen. Aber wenn es das ist, was es braucht, dann mach es! 

5. Glaub an dich und finde Menschen, die das auch tun! 

Mei-Ann Chen: Meine Mentorin Marin Alsop hat mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien viele gläserne Decken eingerissen. Von ihr habe ich gelernt, dass man sich manchmal nicht zu viele Gedanken machen darf. Man muss wissen, was man kann, und das auch zeigen. 

Es war eine Überraschung für mich, als ich nach Österreich kam und die Styriarte kennenlernte mit ihrer Offenheit gegenüber neuem Repertoire, oder dafür, Konzerte neu zu gestalten und diese auch unterhaltsam für das Publikum zu machen – es fühlte sich an, wie einen alten Freund in einem fremden Land zu finden, den ich dort nicht erwartet hätte. 

6. Halt an deiner Leidenschaft fest. Erinnere dich immer daran, warum du das liebst, was du tust! 

Mei-Ann Chen: Als am Anfang meiner Karriere die Absagen mehr wurden als die Noten, die ich jemals dirigiert hatte, hätte ich fast aufgegeben. Ich gab Unterricht, um meine Rechnungen zu bezahlen, und niemand – keine Schule, kein professionelles Orchester, kein Jugendorchester – gab mir die Chance, mich zu beweisen. Und dabei hatte ich alle Titel erreicht, die man bekommen konnte, inklusive einem Doktor in Dirigieren. Der Unterricht war ermüdend und ich spürte, wie meine Leidenschaft langsam schwand. Ich erinnere mich, wie ich in einem kleinen Schulkonzert saß – sie spielten Tschaikowskis Pathétique – und als das Fagott sein Solo begann, spürte ich seine Verzweiflung. Ich saß da und ich weinte wie ein kleines Kind. Ich kannte die Sinfonie, ich hatte sie gespielt, ich hatte sie dirigiert. Aber ich hatte sie noch nie zuvor erlebt. Und in diesem Moment realisierte ich das Privileg und die Ehre, so etwas Wunderschönes und Bedeutendes zu schaffen und mit anderen teilen zu können. Da versprach ich mir, dass ich, sobald ich die Möglichkeit bekam, Musik zu machen, es so tun würde, als wäre es mein letztes Mal.

© Ariane Pakisch privat

Zwischen Aktivismus, Tradition und Klassischer Musik

Die Autorin Ariane Pakisch im Gespräch mit Katharina Milchrahm

„Ich bin dafür den Leuten neue Dinge beizubringen oder zu Dingen hinzuführen, wo sie vorher noch nicht waren.“ 

Mit ihren Artikeln will Ariane Pakisch beweisen, dass man sich über klassische Musik unterhalten kann, ohne sich auf musiktheoretische Inhalte stützen zu müssen. Beweisen, dass das elitäre „Oh mein Gott, ich hör‘ klassische Musik“, wie sie es nennt, nicht so ganz der Realität entspricht. Für Ariane hat klassische Musik einen immensen ästhetischen Wert und hat es verdient, dass man ihr eine Chance gibt – schlicht und einfach, weil sie etwas macht mit den Menschen, Gefühle in ihnen auslöst und sie berührt. Und Gefühle seien die Basis, aufgrund welcher das Publikum entscheidet, ob ein Konzert gefallen hat oder nicht. Das sich der Großteil der Zuhörer:innen auf technische Aspekte der Musik konzentriere, den Eindruck hat die Musikologiestudentin nicht. Und genau über dieses Vorurteil, dass man sich nur mit Vorwissen in ein klassisches Konzert setzen kann, will Ariane Pakisch aufklären. Denn Musik, so Pakisch, ist ein Faden in die Vergangenheit, erzählt uns die Menschheitsgeschichte aus einem anderen Blickwinkel, und hat allein deshalb schon gesellschaftliche Relevanz. 

„Für mich persönlich ist die Idee ‚Konzert‘ wenig ansprechend.“ 

Dass sie eigentlich nicht viel vom Konzertgehen hält, was überraschend klingen mag, erklärt Ariane Pakisch so: „Weil ich die Musik ja eh immer hören kann. Ich gehe auf Konzerte, wenn ich Leute unterstützen will oder neue Sachen kennen lernen will.“ Diese Erklärung zeigt ganz gut, dass die Musikologiestudentin gerne interdisziplinär denkt, und ihr Verständnis von Musik mit Aktivismus verbunden ist. Eine Frauenquote in allen Bereichen, die Vorstellung unbekannter Komponistinnen und nicht-westlichen, nicht-weißen Komponisten, das wünscht sie sich für den klassischen Musikbetrieb. Den Fokus auch auf die Person hinter der Musik richten und erklären, dass der Kanon der klassischen Musik keineswegs starr ist, sondern zu Veränderung und Fortschritt fähig ist. Denn dieses Potenzial ist auf jeden Fall vorhanden. 

„Die Styriarte hat mich sehr überrascht.“ 

Von außen habe sie das Haus Styriarte als sehr konservativ wahrgenommen. Erst als sie begann im Zuge ihrer Artikel selbst zu recherchieren, habe sich dieses Bild geändert. Das sei aber auch eine der Ursachen, weswegen viele junge Menschen, die gerne Klassik hören, nicht zu den Konzerten kommen: Zu wenige Berührungspunkte im Alltag und die Assoziation mit elitären Strukturen von früher, die heute so nicht mehr existieren. Für Ariane Pakisch gibt es einen bevorzugten Weg, sich diesem Problem anzunehmen: über die Menschen selbst. Als Aktivistin sieht sie in Vereinen und Organisationen einen wichtigen Partner, um klassische Musik mit Themen wie Gleichberechtigung und Klimagerechtigkeit in Verbindung zu bringen und so auch für diverseres Publikum ansprechend zu gestalten. Ganz auf Traditionen und Normen wolle sie aber dennoch nicht verzichten: Eine gute Balance zwischen dem Zauber der alten Musik, mit all ihren prächtigen Konzerthallen und glitzernden Outfits, und dem Bezug zur eigenen, gegenwärtigen Geschichte - diese gilt es zu finden. 

Ein Projekt im Rahmen von Neue Wege für die Klassik.
Das Projekt wird finanziert vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, Öffentlichen Dienst und Sport

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