Ein Beitrag zum PSALM 23 von Thomas Höft
Es ist immer wieder faszinierend, Hans Christian Andersen zu lesen. Jenen dänischen Dichter, der seine Kindheit als Sohn eines bankrotten Schuhmachers und einer alkoholabhängigen Wäscherin zubrachte, und der in seinen Märchen vielleicht auch deshalb ganz erstaunliche Einsichten in das menschliche Leben ermöglicht. Andersen tut das auch in seiner Erzählung „Des Kaisers neue Kleider“, die als Mitmachkonzert für Kinder das heurige Festival PSALM des Hauses Styriarte eröffnet. Im weltbekannten Märchen lässt sich ein eitler Kaiser von zwei findigen Webern weismachen, sie könnten ihm ein Gewand weben, dass so herrlich ist, dass nur kluge und amtstaugliche Personen es sehen könnten. Als der nackte Kaiser damit durch die Stadt paradiert, traut sich niemand, zuzugeben, die Kleider nicht sehen zu können – aus nackter Angst, eben als dumm oder untauglich eingestuft zu werden. Erst als ein kleines Kind die Wahrheit ausspricht, der Kaiser sei ja nackt, begreifen alle, dass sie betrogen worden sind. Der Kaiser aber läuft unverdrossen weiter ...
Tatsächlich ist dieses Märchen die ideale Eröffnung für ein Festival unter dem Motto „Wahrheit“, denn die zentralen Probleme der philosophischen Frage, was denn überhaupt Wahrheit sei, werden darin aufgeworfen. Wahrheit ist tatsächlich abhängig von der Perspektive der Betrachter:innen. Muss grundsätzlich subjektiv sein und ist nichts weiter als eine Übereinstimmung auf Zeit darüber, was eine Gesellschaft für wahr hält. Erst einigen sich alle auf die Erzählung der Weber, dann auf die des Kindes. Das ist so frustrierend wie herausfordernd, denn es sagt, dass es die eine, allgemein gültige Wahrheit nicht geben kann. Vielleicht gibt es das Kleid der Weber ja doch, und wir alle sind nur zu dumm, es zu sehen ...
Für manche von uns mag in der Logik des Kontrapunktes, wie ihn Johann Sebastian Bach in seinen „Goldberg-Variationen“ auf das Vollkommenste ausführt und wie der Pianist und Bürgerrechtler Fazil Say bei uns zeigt, eine absolute Wahrheit liegen. Doch nur dann, wenn man das harmonische System, in dem Bach denkt, als allgemeingültig ansieht. Auf einer anderen Grundlage verkehrt sich die Logik zu Unfug. Und ob nun die Natur in Energien zu uns spricht und wir mit ihr energetisch kommunizieren können, wie es die Samin Ulla Pirttijärvi glaubt und in ihrem Joik praktiziert, oder ob die Logen der mittelalterlichen Steinmetzbruderschaften ein Geheimwissen hüteten, das in der Freimaurerei zu neuer Blüte kam, wie es Mozart annahm und die Vienna Clarinet Connection in ihrem Programm beleuchtet, oder ob doch der Evangelist Johannes in seinem Passionsbericht richtig liegt, wie ihn Arvo Pärt in seiner PASSIO erstrahlen lässt, können wir nicht entscheiden. Denn die „ewigen Wahrheiten“ des Glaubens entziehen sich jeder Diskussion. Genau darin liegt der tiefe Graben, der sich in der Johannespassion auftut, in der Jesus sagt: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme“. Worauf der römische Statthalter Pontius Pilatus fragt „Was ist Wahrheit?“ Eine Antwort wartet er nicht ab. Denn wie es für den Gläubigen nur die eine Wahrheit geben kann, so darf es im gesellschaftlichen Miteinander eben nicht nur die eine Wahrheit geben, alles andere führte in eine Diktatur des Schreckens. Jenen, die nun anführen, dass die Wissenschaft doch ein Wahrheitslieferant sei, müssen wir allerdings antworten, dass auch gerade diese das nicht sein will, noch kann. Wissenschaft ist vielmehr der unaufhörliche Diskurs darum, was denn wahr sein könnte.
Heute, wo sich zwischen „Fake News“ und „gefühlter Wahrheit“, „Lügenpresse“-Vorwürfen und Propaganda anscheinend kaum überwindliche Abgründe zwischen den Haltungen der Menschen auftun, bleibt die Frage nach der Wahrheit außerordentlich virulent. Es bleibt nichts übrig, als immer wieder einen neuen Konsens darüber herzustellen, so wie es Georg Friedrich Händel in seinem faszinierenden Oratorium „Il Trionfo del Tempo“ zeigt, wo sich die Beteiligten über ihre Wahrheiten austauschen. Händels Librettist, ein Kardinal, antwortet natürlich ideologisch. Aber tut das auch der Komponist? Vielleicht neigte dieser eher der letzten fehlenden Position unseres Festivals zu, dass nämlich die Wahrheit im Wein liege: also im Rausch, im Feiern, in der Phantasie. Auch das hat sicherlich seine Tücken – und damit erweist das Haus Styriarte einmal mehr, worin seine Wahrheit liegt: in der Diversität der Kunst und der Angebote.