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Orchester der Zukunft

Recreation Youth Orchestra stehend

Recreation Youth Orchestra mit Dirigentin Mei-Ann Chen

Orchester sind an sich keine wirtschaftlich lebensfähigen Gebilde. Orchester brauchen zum wirtschaftlichen Funktionieren einen sehr potenten Partner, eine sehr potente Partnerin, der/die zur Steigerung des eigenen Renommees die eklatante Lücke zwischen Kosten und Ertrag decken kann: im 18. Jahrhundert einen Fürsten, im 19. Jahrhundert bis heute eine selbstbewusste Stadt, ein Land, im 20. Jahrhundert eine Rundfunkanstalt. Ausgenommen: das noch ungenannte Ideal, das Liebhaber-Orchester, dessen Mitglieder nicht um die Gage spielen, sondern rein ums Vergnügen. Aber das ist gerade nicht angesagt. 

Ein Beitrag von Mathis Huber.

Orchester sind auf der anderen Seite extrem faszinierende Gebilde, in denen 40, 60, 80 musikalische Individuen für eine Stunde zu einem komplexen Körper zusammenwachsen, um die größten Gedankengebäude, die die Menschheit hervorgebracht hat und hervorbringt, in Klang umzusetzen, um ein Publikum aus der Welt zu entrücken, und um dann, nach dieser unbegreiflichen Stunde, wieder in den ganz gewöhnlichen Alltag zurückzukehren. 

Orchester sind offenbar aus der Zeit gefallen, sind Erbstücke aus einer im Untergang befindlichen Welt, in der Monumente der „Hochkultur“ grundsätzlich sakrosankt waren. Aber Orchester sind ebenso offenbar faszinierend genug, dass sich Personen und Institutionen, wie zum Beispiel das Haus Styriarte, gegen alle wirtschaftliche Vernunft dafür verwenden, sie auch für morgen am Leben zu halten und zum Blühen zu bringen.  

Settings mit Patina 

Orchester treten auf in Orchesterkonzerten, auch in Opernvorstellungen und anderen Formaten aus den vergangenen Jahrhunderten. In der Regel tun sie das in Räumen und in Settings mit der Patina ebendieser Jahrhunderte. Und viele Musikfreund:innen lieben genau das, und sie erleben in diesen Settings Sternstunden. Ihr gemeinsamer Nenner, abgesehen von der Liebe zur klassischen Musik: Sie sind in fortgeschrittenem Alter, und junge Leute fühlen sich von diesen Settings und Formaten überwiegend gar nicht angesprochen, auch wenn sie die Maschine Orchester an sich faszinierend finden. 

Dieses Phänomen beschäftigt uns im Hause Styriarte seit vielen Jahren, und gerade in der letzten Zeit haben wir auch tolle Erlebnisse mit jungen Zuhörer:innen gehabt, und sie mit unserer Musik. Und einer der Schlüssel zum Erfolg lag darin: Auch die Orchester-Musiker:innen in diesen Klangkörpern (dem Styriarte Youth Orchestra und dem Recreation Youth Orchestra) waren ganz junge Leute zwischen 14 und 26 Jahren. Denn im Gegensatz zur Publikumsseite ist auf der Musiker:innenseite Jugend in Fülle vorhanden. Die Musikhochschulen bilden weltweit viel mehr klassische Musiker:innen aus als der Markt je aufnehmen wird können, und man kann sicher sagen: Nie in der Geschichte gab es hierzulande so viele höchst qualifizierte junge Musiker:innen wie heute, da es solche obendrein noch aus der ganzen Welt nach Europa zieht, und nach Österreich im Besonderen. Und fast alle von ihnen träumen davon, die Musik zu ihrem Beruf zu machen. 

Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten 

Das Haus Styriarte ist gewissermaßen spezialisiert auf die Entwicklung von Orchestern. Wir kreieren und erhalten seit über 20 Jahren große Klangkörper mit jeweils verschiedenen Profilen und Aufgabenbereichen. Da ist das Orchester Recreation, ein klassisches Sinfonieorchester, das seit 2002 in unserem Haus besteht. Da ist dessen hoch spezialisierte kleine Schwester Recreation Barock, seit 2012 gemeinsam mit Michael Hofstetter als Kompetenzzentrum für das Spiel auf historischen Instrumenten entwickelt. Da ist das Styriarte Festspiel-Orchester, seit 2014 ebenfalls mit Michael Hofstetter für spezielle Aufgaben in den Steirischen Festspielen entwickelt, mit größerer Beteiligung international tätiger Musiker:innen. Im kommenden Festspielsommer leitet auch wieder Jordi Savall dieses Orchester. Und zuletzt hat das Haus Styriarte zwei Jugendorchester etabliert, im Sommer 2021 das Styriarte Youth Orchestra mit internationalem Fokus, gemeinsam mit Andrés Orozco-Estrada, und heuer das Recreation Youth Orchestra gemeinsam mit Mei-Ann Chen. Alle unsere fünf Klangkörper sind sehr vital und produzieren klingende Wunderdinge, und jeder für sich wirft atemberaubende Finanzierungsfragen auf. Aber wir folgen hier von Anfang an einem Leitspruch unseres Mentors Nikolaus Harnoncourt, der da lautet: „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“. 

Zum Glück sind alle diese Klangkörper aus dem Hause Styriarte Projektorchester, also sie basieren nicht auf stehenden Dienstverhältnissen, sondern auf Vereinbarungen, die jeweils zu den einzelnen Projekten eingegangen werden. Das macht den künstlerischen Höhenflug leichter und auch schwerer. Leichter, weil in einem Projektorchester niemand „Dienst macht“, sondern sich alle aus eigener Entscheidung auf ein Projekt eingelassen haben, auf das man sich freut und zu dem man nicht extra motiviert werden muss. Schwerer, weil die komplexe Orchestermaschine sich Projekt für Projekt neu zusammenfügen muss, und weil hier nichts selbstverständlich funktioniert. Das eröffnet Felder für endlose Diskussionen, und das Orchester Recreation als der mit seinen 21 Lebensjahren betagteste Styriarte-Klangkörper ist gerade wieder mitten drin in einer solchen Diskussion: Wie kann die Kontinuität, die es braucht, mit der Frische, die es noch mehr braucht, in Harmonie gebracht werden? Wie die Erfahrung der älteren mit der Qualität der ganz jungen Mitspieler:innen? Wie das Leben der Tradition mit der Eröffnung neuer Wege? Bei diesen Themen ächzt und stöhnt natürlich jedes soziale Gefüge, aber das heißt immer auch: Es ist noch mächtig Leben in dem alten Erbstück Orchester.  

Dann wollen wir doch weiter die Unmöglichkeiten möglich machen. Nicht um ein Museumsstück am Leben zu halten, sondern weil wir einem großen Publikum ein großes Glück schenken können und noch spannender: weil wir ein noch größeres Publikum, das noch keine Ahnung von diesem Schatz hat, mit einem faszinierenden Kunstprodukt bekannt machen können. Und dann bald süchtig, idealerweise. Die aktuellen Vorhaben der Orchester aus dem Hause Styriarte zeigen doch schön, wohin die Wege gehen sollen. 

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